ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS


19.03.2023


Wir kennen uns doch schon so lange


Stammpatienten sind etwas Wunderbares, einige begleiteten mich, und ich sie, viele Jahre. Sie haben mich, ihren Hausarzt, zu einem Teil ihres Lebens gemacht, so wie auch sie ein Teil des meinigen geworden sind. Es verbindet uns gemeinsam Erlebtes, Trauriges und Frohes, Enttäuschungen und glückliche Wendungen. Die Erinnerungen daran bilden einen großen Schatz. Und manchmal öffne ich den Deckel dieser Schatzkiste, schaue hinein und freue mich an den dort gut verwahrten Geschichten.

Es trug sich also zu, ...

... dass manche derjenigen, die kamen, um mich wegen ihrer Gesundheit um Rat zu fragen, zuweilen den Glauben hegten, auch sie sollten sich, wenn auch ungefragt, dringend um mein Leben kümmern.
Als ich mich vor Jahren von meinem damaligen Partner getrennt hatte, fragte ein älterer Herr in der Sprechstunde, ob es denn tatsächlich stimme, was ihm zu Ohren gekommen wäre. Zwei Jahre später erkundigte er sich, wie es meinem „Ex“ ginge und ob ich noch Kontakt zu ihm hätte. Ich fühlte mich überrumpelt, mimte Schwerhörigkeit, war wie gelähmt. Ein kurzes Sammeln, dann weiter mit seinen Blutdrucktabletten. Die nächste Folge der Serie „Die Praxis am Rande der Stadt“ fiel somit aus.

Wiederum einige Jahre später lobte mich eine ältere Dame, dass ich es genau richtig machen würde, ohne Mann zu leben. „Fangen Sie bloß nicht wieder so was an!“, warnte sie mich.
„Zu spät“, murmelte ich beiläufig.
„Was? Das ist nicht Ihr Ernst! Na, wenn Sie das mal nicht bereuen!“
Ihren Mann hatte ich sehr wohl als jemanden erlebt, der alles genauer wusste als der Rest der Welt. Aber dass sie in ihm ein dermaßen abschreckendes Beispiel sah, das sie gelehrt hatte, mit einem Manne sei es überhaupt kaum auszuhalten, war mir bis zu diesem Tage nicht aufgegangen.

Ein kräftiger Bauer, den ich wiederholt von seiner asthmatischen Luftnot befreit hatte, passte mich eines Tages an der Sprechzimmertür ab, um mir seine Dankbarkeit durch eine innige Umarmung zu zeigen. Das wiederum verschlug mir den Atem.
Wenn allerdings die sechsundneunzigjährige Oma Anna, wie sie sich selbst gern bezeichnete, mich in die Arme schloss und mir beteuerte, dass ich für sie wie eine Enkelin sei und mir, wie Omas das tun, eine Tafel Schokolade in die Hausbesuchstasche steckte, kam das nie unerwartet und war für mich völlig in Ordnung.

Im Frühjahr war eine redselige Dame dankbar gewesen, in mir jemanden gefunden zu haben, mit dem sie die Sorge um ihren verstorbenen Mann teilen konnte, weil das Hochwasser den Friedhof samt seinem Grab überschwemmt hatte. Heute hustete sie unaufhörlich und brachte kein Wort heraus. So fragte ich, ob sie etwas zu trinken haben wolle und war im selben Moment schon im Nebenraum verschwunden, um ein Glas Wasser zu holen. Gierig trank sie die ersten Schlucke, danach konnte sie wieder sprechen: „Als ich hier so saß, habe ich schon überlegt, ob ich mir nicht das Glas von Ihrem Waschbecken nehmen soll.“
„Das ist m e i n Trinkglas!“, entgegnete ich eigensinnig.
„Ach, das würde mich nicht stören, mit Ihnen aus einem Glas zu trinken. Wir beide kennen uns doch schon so lange.“

Ein Erlebnis muss unbedingt noch erzählt werden.
Die letzte Patientin des Vormittags, eingeplant für eine Gesundheitsuntersuchung, war bereits von meiner Helferin vorbereitet worden: Blutdruck messen, wiegen, Blutzuckerwerte eintragen, und sie war gebeten worden, sich schon zu entkleiden. Danach waren einige Minuten vergangen. Ein Telefonat und einige Nur-mal-schnell-zwischendurch-Unterschriften hatten mich aufgehalten. Nun eilte ich zum Sprechzimmer, riss die Tür auf und - erstarrte: Da saß eine splitternackte Frau, rosige Wangen, silbernes Haar, Perlenkette, und den Busen verdeckte ein riesengroßer Blumenstrauß.
Der Schrecksekunde folgte ein schallendes Lachen, in das auch die Nackte unbeschwert einstimmte. Diese sehr spezielle Geburtstagsgratulation werden wir beide nie vergessen. Bei allen darauffolgenden erinnerten wir uns immer wieder mit Freude an diese skurrile Szene.
Im letzten Jahr zur selben Zeit schob sie mir, ein wenig traurig, einen Blumengutschein über den Schreibtisch: „Tut mir leid, Frau Doktor. Wenn ich mich jetzt am Rollator festhalten muss, kann ich keinen Blumenstrauß mehr tragen. Und nackig machen für den Check up muss ich mich ja diesmal auch nicht.“



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