EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT
Nackte Tatsachen
Unten am Sandstrand ein Mann, um das Gemächt ergraut, des Kopfhaars verlustig, die Haut sonnengegerbt, knorrige Füße von den auslaufenden Wellen umspült. Sein Blick ruht in der Ferne. Die ein wenig gekrümmte, dennoch muskulöse Gestalt erinnert an einen alten Gaul. Mit festem, aber behutsamem Schritt nimmt er die Brandung, gleitet hinein und schwimmt und schwimmt. Er und das Meer scheinen eins. Möwen kreischen. Das Licht spielt mit der Gischt. Als der Alte den Fluten wieder entsteigt, verlässt er sie nicht ganz, bleibt ein Teil der Verbindung. Der Wind frottiert ihn ab, vom Salz bilden sich helle Krusten. Mit der Hand über den Augen blinzelt er gegen die Sonne.
Auf einer bunt geblümten Decke schaufelt sich eine ordentlich frisierte Frau im Rüschenbadeanzug Salat und Pommes in den Mund. Sie sieht kurz zu dem Alten, dann zu ihrem Mann. Der verdreht hinter seiner runden Hornbrille die Augen. Sie rümpft die Nase über den Nackten und zieht die Mundwinkel nach unten.
Jener genießt noch immer die frische Brise auf seinem Körper. Irgendwann greift er gedankenlos zum Häufchen mit seinen Sachen, steigt in die Hose, wirft das Hemd über, lässt es offen wehen. Den Strohhut nimmt er in die Hand und geht.
Der brüskierte Ehemann wirft die leeren Styroporboxen der am Kiosk gekauften Mahlzeiten in den überquellenden Papierkorb gleich neben der Absperrung zur mit Strandhafer bepflanzten Düne. Die Frau kramt eine Sonnenölflasche aus ihrer Dritte-Welt-Laden-Strandtasche aus recycelten Einwegverpackungen, verteilt deren dickflüssig-braunen Inhalt auf dem Rücken ihres Mannes und auf ihrem Dekolleté, peinlich darauf bedacht, die Rüschen ihres Oberteils damit nicht zu verderben.
Bevor sie sich dem kontrollierten Bräunungsakt hingibt, sieht sie in der Ferne die immer kleiner werdende Silhouette des Alten hinter der Steilküste verschwinden, ohne seine Zwiesprache mit den geschäftig hin- und herfliegenden Uferschwalben zu erahnen, deren Bruthöhlen die Abbruchkante durchlöchern.
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