23.01.2022
Hauptsache digital
Die Buchführung ist eine der ödesten Beschäftigungen, mit der ein Freiberufler gequält werden kann. Deshalb schiebe ich diese potenzierte Langweiligkeit so lange vor mir her, bis mich der Abgabetermin unwiderruflich zum Handeln zwingt. Dann erledige ich alles auf einen Ruck, und das Licht am Ende des Tunnels ist wieder ein Wochenende mit lustbetontem Zeitvertreib. Da beim Sortieren und Abheften vermutlich eine Hirnhälfte ungenutzt bleibt, machen sich die Gedanken selbständig:
Wie ein dummes Schaf bezahle ich Monat für Monat an irgendeine Firma für irgendeine Leistung der sogenannten Telematikinfrastruktur, von der ich nicht so richtig weiß, wozu sie für mich gut ist. Und aller Vierteljahre kassiert noch eine zweite Firma für etwas ähnlich Imaginäres. Würde ich das Geld aus dem Fenster werfen, wäre dieser Wurf zwar unzweifelhaft dämlich, weil schade um das Geworfene, doch an meiner täglichen Arbeit würde sich dadurch kaum etwas ändern, außer, dass wohl einige Error-Meldungen auf meinem Bildschirm ausblieben.
Die Vorstellung, dass ich mir mit der Anwendung dieser für mich undurchsichtigen Dienstleistungen, die aus einem Kästchen unter meinem Anmeldetresen kommen, undichte Stellen, fremde Ohren und Augen in mein PC-System hole, lässt mich nicht mehr los. Von denen, die die Verbindung meines Praxiscomputernetzes mit einem großen, fremden, weit entfernten Großcomputer wünschen (wer wünscht sich so etwas?), wird mir weisgemacht, dass alles ganz gefahrlos und vor allem umsonst ist, denn meine Ausgaben dafür bekäme ich wieder ersetzt.
Da fragt man sich allerdings, woher kommt diese milde Gabe? Von der Kassenärztlichen Vereinigung, die Institution, die unter anderem auch das Geld für die selbständigen Ärzte verwaltet. Das bekommt sie wiederum von den Krankenkassen. Und die sammeln es von ihren Kunden ein, die es eigentlich bezahlen, um ihre medizinische Behandlung abzusichern. Aber auch die Verwaltung und die moderne Technik kosten Geld, und woher nehmen, wenn nicht stehlen?
Es gibt einen Vertrag, in dem vereinbart wurde, wieviel Geld die Ärzte von den Krankenkassen bekommen, um diese neue Technik zu kaufen. Jawohl, die Ärzte kaufen sie. Was haben die mit der Verwaltung der Krankenkassen zu tun? Eigentlich nichts, sollte man denken. Doch andere lenken.
Wer diesen Deal sofort mitmacht, bekommt fast alle Unkosten für den Einbau ersetzt, wer trödelt, bekommt im Laufe der Zeit immer weniger zurück. Vor der Installation der neuen Technik muss jedoch die praxiseigene Computeranlage bestimmte Voraussetzungen erfüllen, die geschaffen werden müssen. Wer die nicht hat, ist nicht zeitgemäß. Und wer nicht zeitgemäß ist, muss erst einmal tief in die Tasche greifen, nichts ist umsonst.
Wenn die Ärzte in den nächsten Jahren noch mehr Computerzusatzgeräte und -programme kaufen sollen, weil sich das die Krankenkassen und der Gesundheitsminister wünschen, wird neu verhandelt, wer das bezahlt. Sollte dies abermals im Vorfeld eine technische Aufrüstung der Praxen erfordern, der Fortschritte ist unaufhaltsam, ist diese selbstredend von den Praxen zu tragen.
Mitmachen müssen alle, das ist einfach Pflicht. Schließlich darf man als Kassenarzt arbeiten. Da möchten die Ärzte den Krankenkassen natürlich sehr gern einen Teil der Verwaltungsarbeit abnehmen. Diejenigen, die das Anzapfen ihres Computers ablehnen, werden mit Honorarabzug bestraft. Und das Honorar ist nicht etwa nur das Geld, das der Doktor einstreicht, sondern das, wovon alle Angestellten der Praxis ihren Lohn bezahlt bekommen, und das, womit der ganze Betrieb bestritten wird, wie Miete, Strom, Heizung, Spritzen, Instrumente, Untersuchungsliegen, Putzmittel und Klopapier. Wer also nicht mitmacht, ist angeschmiert. Vermutlich braucht aber der Telematikverweigerer viel seltener einen IT-Servicetechniker, um das anfällige, verkorkste Konstrukt wieder zum Laufen zu bringen, wenn es sich aufgehängt hat. Denn darum, dass alles funktioniert, muss sich jede Praxis selbst kümmern.
Die Leute, die sich die Telematik wünschen, sind auch der Meinung, dass für die mitgelieferten Datenleckstellen derjenige verantwortlich ist, der die Technik anwendet. Weder der Hersteller, noch diejenigen, die die Anwendung fordern, fühlen sich für die Datensicherheit verantwortlich.
Aus meiner Sicht ist dies dasselbe Prinzip, wie wenn die Patienten für die Nebenwirkungen der Medikamente, die sie einnehmen, verantwortlich gemacht würden. Und derjenige, der die Medikamente nicht einnähme, müsste Strafe zahlen.
Ich komme mir jedenfalls ziemlich ausgeliefert dabei vor. Den niedergelassenen Ärzten wird ein unausgereiftes System aufoktroyiert von Entscheidungsträgern, die vermutlich von der digitalen Welt genauso viel Ahnung haben, wie ich, also fast keine.
Eine Steigerung dessen ist das elektronische Rezept und die elektronische Arbeitsbefreiungsbescheinigung. Einige ältere Patienten haben, nachdem sie davon in der Zeitung gelesen hatten, bereits ganz ängstlich gefragt, ob sie ihr Rezept auch ohne Smartphone bekommen können, sie wollen so ein Ding nicht haben. Und den Einnahmeplan bitte auf Papier, sonst wüssten sie überhaupt nicht mehr, wie sie ihre Medikamente einnehmen sollen. Seitdem in der Apotheke des öfteren Austauschpräparate abgegeben werden, ist es für viele ohnehin schon unübersichtlich geworden. Es ist vorgekommen, dass Patienten den Rest der Pillen von der bisherigen Pharmafirma, die sie noch zu Hause hatten, zusammen mit dem gleichen Medikament, das die Apotheke diesmal mit dem einer anderen Firma ersetzt hat, eingenommen haben, also die doppelte Dosis. Ich bin jedes Mal sehr erleichtert, wenn es der Patient schadlos überstanden hat.
Die Krönung der digitalen Verknüpfung soll die elektronische Patientenakte sein. Damit ist nicht die praxiseigene Krankenakte des Patienten gemeint. Diese Dokumentation läuft seit Jahren ausschließlich elektronisch, die praxisinternen Abläufe sind wunderbar vernetzt zwischen den einzelnen Behandlungsräumen und Mitarbeitern, und standardisierte Abläufe helfen, Fehler und Informationsverlust zu vermeiden. Nein, das ist Technik, die begeistert, weil sie hilfreich ist und immer wieder genau unseren Praxisabläufen angepasst werden kann.
Diese neue elektronische Patientenakte existiert außerhalb der Praxis, außerhalb des geschützten Raumes, in dem Dinge besprochen werden, um die nur Arzt und Patient wissen.
Die Idee, dass jeder Patient immer seine Gesundheitsdaten wie Krankengeschichte, Diagnosen, Medikamente, Allergien und Impfungen zur Verfügung hat, ist eigentlich gut. Wenn ein fremder Arzt oder ein Krankenhaus plötzlich diese Informationen für eine Behandlung brauchen, wäre sofort alles verfügbar.
Wie von den Krankenkassen verkündet, solle der Patient selbst entscheiden, wer in seine Daten der elektronischen Patientenakte einsehen kann. Wenn er möchte, kann er diese bei seiner Krankenkasse beantragen und erhält von dort eine App für das Smartphone oder Tablet.
Für das erstmalige Befüllen der Akte bekommt der Arzt zehn Euro. Es gibt Patienten, die seit Jahrzehnten in meiner Behandlung sind, da gibt es viel zu befüllen. Einfach mal so zwischendurch eine halbe Stunde Verwaltungsarbeit für die Krankenkasse statt Behandlungszeit? So stelle ich mir meine Arbeit nicht vor. Aber vielleicht funktioniert es wider Erwarten zauberhaft. Ich werde mich überraschen lassen müssen.
Die dann auf der Karte oder in der App gespeicherten Dokumente des Arztes werden zuerst bei externen Providern zwischengespeichert, bevor sie letztendlich in einer zentralen Datenspeicherung landen.
Und da kommt niemand an die Daten? Wenn jemand irgendwann im Leben eine Krankheit hatte, wen geht das etwas an? Soll die Menschheit wissen, dass Frau Müller Menstruationsbeschwerden oder Herr Meier eine vergrößerte Vorsteherdrüse hat? Beides ist auf den ersten Blick nicht sonderlich dramatisch. Jedoch in einer Zeit, in der Gesundheitsdaten von Prominenten zum Allgemeingut gemacht werden, ist es kaum zu glauben, dass die Daten von allen anderen in einer verschlossenen Kiste bleiben. Eine Bank oder eine Versicherung könnten schon daran interessiert sein, wie lange es der Kunde noch macht. Oder ein Arbeitgeber könnte wissen wollen, ob der Bewerber für einen verantwortungsvollen Posten irgendwann einmal Alkohol- oder Drogenprobleme hatte.
Momentan ist die Vollendung der beschriebenen digitalen Anwendungen in meiner Praxis ins Straucheln gekommen. Meine Softwarefirma war einem Hackerangriff zum Opfer gefallen ist. Sie ist momentan noch mit der Schadensbegrenzung befasst. Die Einbindung von elektronischer Arbeitsbefreiung und e-Rezept funktioniert nicht. Alle Passwörter sind geändert, und alle Patientendaten sind noch ausschließlich auf meinem Praxiscomputer.
Alle beteuern, dass das neue Telematik-System dann richtig sicher ist.
Kürzlich ich habe ich ein Buch gelesen, in dem der Autor von seiner Lebenszeit im Russland der Nachkriegszeit in anschaulicher und erschütternder Weise berichtet, von Erlebnissen, die der Mensch der heutigen Zivilisation kaum noch nachvollziehen kann und die von der Jetztzeit Lichtjahre entfernt zu sein scheinen. Wenig oder halb gebildete, herrschsüchtige Natschalniks setzten auf teils widersinnige Art Anweisungen durch, die jedem normalen Menschenverstand widersprachen, ohne sie auch nur im Geringsten kritisch zu hinterfragen. Befehl war Befehl, einerseits, um seine Haut zu retten, und andererseits, um im System höhergestellten Machthabern devot zu sein und die eigene Karriere zu bahnen.
Diese Art der Machtausübung, oft mit Ignoranz der eigenen Verantwortung, war ebenso ein Teil der ostdeutschen Geschichte.
Was haben wir von den Überlieferungen aus vergangenen Zeiten gelernt?
Ich fange meine auf Abwege geratenen Gedanken wieder ein und hefte den Rechnungsbeleg der Digitalfirma hinter meinen Kontoauszug.
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