ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS


13.03.2022


Ein Apothekendrama


Die Tochter einer Patientin hatte mir eine E-Mail geschrieben. Der Mutter ginge es immer noch nicht besser, und ich müsse mir unbedingt noch einmal ihr Bein ansehen. Das tat ich.
Weil die alte Dame nicht gut laufen kann, nehme ich nach dem Hausbesuch das ausgeschriebene Rezept gleich selbst mit, um es in der Apotheke, zwei Häuser weiter, abzugeben.
An der Verkaufstheke, die mit einer Corona-Spuckschutz-Scheibe versehen ist, wird, als ich hereinkomme, bereits ein Kunde bedient, ein dunkelhaariger, arabisch aussehender, junger Mann. Hinter dem Tresen werkelt ein hochgewachsener, Respekt einflößender Herr mit üppigem, grauem Schopf im Apothekerkittel, darunter ein weißes Oberhemd mit dunkelroter Krawatte.
So bleibe ich neben der automatischen Tür stehen, um Abstand zu wahren und warte, bis ich an der Reihe bin. Vor mir steht ein Regal mit Brennnessel-, Kamillen-, Fenchel- und sonstigen Kräutertees, in dem daneben sind Rheumasalben und Badezusätze aufgereiht. Erst nach einer Weile steigen mir die typischen Gerüche in die Nase. Mir scheint, der Apotheker führt alle seine Verrichtungen in Zeitlupe aus, er geht zwischendurch in ein Hinterzimmer, kommt wieder, aber nicht, wie ich gehofft hatte, mit einer Verstärkung, der ich mein Anliegen hätte vorbringen können. Nein, er schreitet höchstpersönlich wieder in den Verkaufsraum, tippt ein wenig feindselig auf seinem Computer herum, schaut immer wieder auf die Tablettenschachteln, die er bedeutungsvoll hinter der Scheibe hin und her schiebt. Diesem Zeremoniell zuzusehen, passt nicht in meinen Zeitplan. Eigentlich wollte ich nur schnell das Rezept der Patientin loswerden, ohne jede Beratung und ohne der Bereitstellung der Lieferung beizuwohnen.
Ich räuspere mich etwas lauter. Das erregt tatsächlich die Aufmerksamkeit der beiden Herren, sie sehen unvermittelt zu mir in die Ecke neben der Tür. Der Apotheker zieht die grauen buschigen Augenbrauen weit nach oben und beäugt mich über sein breitrandiges schwarzes Brillengestell hinweg. Auch sein Kunde sieht mich erstaunt an. In diesem Moment fällt mir auf, dass der junge Mann seine Maske als Alibi-Corona-Schutz unterhalb der Nase trägt. Ohne nachzudenken, tue ich das, was ich in der Praxis gegenüber meinen Patienten mehrmals täglich tue, ich deute mit dem Finger auf meine Nase. Und der Hinweis funktioniert auch hier: Er zieht spontan die Maske nach oben, dann jedoch, nach einer kurzen Pause des Überlegens, wieder nach unten, um sich anschließend zurück zur Scheibe zu wenden, hinter der die Tablettenschachteln aufgereiht sind. Plötzlich, wie wenn ein Unwetter hereinbräche, verfärbt sich das Gesicht des Grauhaarigen dunkelrot, ballt sich zusammen, und eine schnarrende Stimme brüllt: „Die Maske muss über die Nase!“, und man hört förmlich die versprühten Speicheltropfen in der seinigen landen. „Ich will auch nicht, dass Sie mich infizieren!“
Schockiert über so viel Aggression, schelte ich mich, nicht den Mund gehalten zu haben, schließlich geht mich diese Apotheke rein gar nichts an. Auch der junge Mann ist irritiert, zieht aber, so in die Enge getrieben, umgehend seine Maske nach oben.
„Na also, es geht doch!“, schreit der Alte immer noch.
Ich schäme mich, Auslöser dieses Eklats gewesen zu sein, habe Angst, dass sich der Junge diese Nummer nicht bieten lässt. Halblaut souffliere ich in seine Richtung: „Vielen Dank, das ist nett von Ihnen. Die Maske war sicherlich nur aus Versehen heruntergerutscht.“
Der junge Mann bezahlt, kommt auf mich zu, mir bleibt fast das Herz stehen, läuft dicht an mir vorbei und sagt im Vorbeigehen: „Entschuldigen Sie bitte.“ Erleichtert wünsche ich ihm noch einen schönen Tag. Dann gebe ich das Rezept für meine Patientin ab.
Während ich wieder den Weg zur Praxis einschlage, komme ich mir immer noch vor wie in einem Film. Ob es der falsche oder der richtige ist, weiß ich nicht. Was hat diese jetzt zwei Jahre währende Ausnahmesituation mit uns gemacht? Werden die Menschen irgendwann einmal wieder normal werden? Oder agieren wir derzeit nur mit noch mehr Eifer von unseren längst angestammten Plätzen?


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