ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS


01.12.2021


Besinnliche Feiertage


Ab Oktober beginnt alljährlich die magische Zeit, in der ein Folgetermin in drei Monaten etwas Einschneidendes ist. „Dann sehen wir uns vor Weihnachten gar nicht mehr! Eigentlich kann man es noch nicht sagen, aber ich wünsche doch schon besinnliche Feiertage und ein gutes neues Jahr.“
Täglich unzählige Male bedanke ich mich artig für die gutgemeinten Wünsche.
Eine Steigerungsform ist das Verschwörerische „Na, ich komme vor dem Fest noch einmal vorbei.“
Das meinen die lieben Patienten wirklich ernst. Sie bringen Päckchen mit Kaffee, Konfekt und selbstgebackene Plätzchen. Und wenn sie nun einmal da sind, haben sie ganz schnell noch eine Frage, wie: „Muss das mit den Tabletten wirklich so bleiben?“ Oder: „Können Sie sich das mal schnell ansehen, ich hatte es das letzte Mal vergessen … Ach ja, und besinnliche Vorweihnachtszeit noch.“
Es herrscht tatsächlich Endzeitstimmung. Bevor die Null-Zeit der Feiertage anbricht und das alte Jahr vollends verschwindet, muss unbedingt der bereits regelmäßig verordnete Medikamentenvorrat aufgefüllt werden, man weiß ja nie, wie das nach dem Jahresende läuft. Oder die seit Jahren bestehenden Rückenschmerzen müssen abgeklärt werden, weil man sich das für dieses Jahr vorgenommen hatte, und nun ist das vertrackte Jahr plötzlich fast vorbei. Richtig Gucken geht auch nicht mehr, Brille stand ebenfalls auf der Agenda, schrecklich, man bekommt keine kurzfristigen Augenarzttermine, wo soll das noch hinführen mit diesem Gesundheitswesen. Und dann gibt es noch das Bonusheft, das unbedingt im alten Jahr abgestempelt werden muss.

An einem Montag mitten in der frohen Vorweihnachtszeit erreichte ich einundzwanzig Uhr nach überbordender Spätsprechstunde mein trautes Heim. Endlich geschafft. Mantel an die Garderobe hängen, Schuhe aus, Katze füttern. Es klingelt. Sicher meine Nachbarin, die eine Postsendung für mich angenommen hat. In Erwartung einer freundlichen Begegnung reiße ich die Haustür auf. Jedoch davor steht ein Mann, der nicht hierher passt. Kurz hinter ihm eine Frau mit blondem Dutt. Es dauert eine Weile, bis ich mich in der Situation zurechtfinde. Der Mann hat an seinem Gürtel das Langzeit-Blutdruck-Messgerät, auf das er immer wieder wütend einschlägt: „Sehen Sie sich das an! Hundertachtzig zu hundert!“
Immer noch sprachlos stehe ich in meinem Flur.
Der Mann drängelt sich herein, winkt seine Frau hinterher, ob sie denn draußen anfrieren wolle. Diese Leute gehören nicht in meinen Flur!
„Hier! Jetzt zeigt es hundertfünfundneunzig zu hundertzehn! So ein Scheißding. Das können Sie gleich hierbehalten!“
Die Katze miaut kreischend mit buschigem, zuckendem Schwanz. Das Klingeln hatte das Futternapf-Füllen unterbrochen. Sie kann den Besuch offensichtlich überhaupt nicht leiden.
„Meine Hausbesuchstasche habe ich so spät am Abend nicht aus der Praxis mitgebracht“, kann ich endlich dem ungehaltenen Bluthochdruckpatienten gestehen, und mir fällt mit Schrecken ein, dass ich nicht einmal meinen Rettungskoffer dabei habe, weil das Auto heute in der Werkstatt war und ich nicht daran gedacht hatte, ihn wieder in den Kofferraum zu packen. Ich habe nicht im Entferntesten irgendein Mittelchen im Haus. Ganz kurz kommt mir der Gedanke, schnell in die Praxis zu fahren, um etwas zu holen. Soll ich die Patienten so lange auf mein Sofa bitten? Außer der Katze war niemand zu Hause. Nach der Medikamentengabe könnten wir, um die Wirkung abzuwarten, gemeinsam zu Abend essen. Nein. So spät isst man nicht, das kann ich keinem zumuten.
„Zweihundert zu hundertfünfzehn! Ich gehe zu Ihrem Kollegen Dr. S., der wohnt gleich hier um die Ecke!“
Mir gelingt es, meinem Kollegen den Feierabend zu retten, werfe den Vorschlag Bereitschaftsdienst ein. „Da fahre ich lieber gleich ins Krankenhaus!“ Und verschwunden ist er, im Schlepptau die blonde Frau.
Ich füttere die Katze und habe ein schlechtes Gewissen. Bin wohl doch kein richtiger Hausarzt von altem Schrot und Korn. Der Gedanke verfolgt mich bis in den Schlaf.

Am Morgen empfangen mich meine Helferinnen hektisch. Das Langzeitblutdruckgerät wurde nicht zurückgebracht und der nächste Patient wartet darauf.
Ich erzähle ihnen meine Gute-Nacht-Geschichte.
Die Ehefrau mit dem blonden Dutt hatte bereits ihren heutigen Termin telefonisch abgesagt, sie käme lieber zusammen mit ihrem Mann, der sei im Krankenhaus, in der Geriatrie. Unser Blutdruckgerät auch. Es war einer der Arbeitstage, die lieber ausfallen sollten.

Am Nachmittag besuchte ich meine Hundertjährige, deren achtzigjährige Tochter war gerade beim Plätzchenbacken und ärgerte sich über den krümligen Teig, der sich einfach nicht kneten ließ. Ihr Blutdruck war heute nicht Anlass des Hausbesuchs, nur der der Mutter. Dabei beließ ich es auch, obwohl ich mit einer gut bestückten Tasche ausgerüstet war.
Vielleicht wird der Teig mit einem Schluck Milch wieder geschmeidig, schlug ich vor.
Gute Idee, fand sie. Wenn es gelänge, brächte sie mir natürlich eine Keks-Kostprobe vorbei.
Dann nur noch Erna W., vierundneunzig. Wieder erzählt sie, dass sie es als Vertriebene hierher verschlagen habe, und dass von ihrer Familie keiner mehr da ist. „Doch die Erna hat so viel Glück im Leben abbekommen“, sagt sie jedes Mal, „das Wichtigste ist es, gute Menschen um sich zu haben, und das habe ich.“ Und weil sie mich für eine solchen hält, umarmt sie mich auch heute.
„Frohe Weihnachten und seien Sie dankbar, dass es Ihnen so gut geht.“

 


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