Des Kaisers neue Kleider
Die nachfolgenden Zeilen habe ich im November 2018 geschrieben. Auf schmerzliche Weise kamen sie mir ins Gedächtnis, nachdem der Kampf um die Deutungshoheit der Lage im Russland-Ukraine-Konflikt wieder hemmungslos zu toben begann. Diejenigen, die glauben, die Wahrheit gepachtet zu haben, müssen sich am Ende nicht in die Köpfe schießen lassen.
Und es wird geschossen. Die Menschheit scheint um 80 Jahre zurückgeworfen zu sein.
Einer meiner Freunde, der in einer weltweit agierenden IT-Firma beschäftigt ist, berichtet von einem derzeit äußerst bedrückenden Arbeitsklima. Die Ukrainer stehen neben sich, lesen fassungslos die Nachrichten ihrer Familien, sehen Bilder von zerbombten Häusern in Straßen, auf denen sie vor kurzem noch gegangen sind. Die Russen sind beschämt, beteuern, dass Putin nicht ihr Russland ist.
2018
Während der Fahrt zur Arbeit hörte ich Nachrichten. Vor der Halbinsel Krim hätten russische Militärs das Feuer auf Schiffe der ukrainischen Marine eröffnet, ein Marineschlepper sei von einem Schiff des russischen Grenzschutzes gerammt worden. Die russische Seite sprach von Piraterie. Diese Meldung erinnerte mich spontan an jene von 2014, die damals durch die Medien ging, wonach russische Soldaten ohne Hoheitsabzeichen das Parlament und strategisch wichtige Gebäude auf der Krim besetzt hätten. Kreise um Putin hatten dies dementiert. Bei den Besetzern habe es sich um ukrainische Widerstandskämpfer gegen den faschistischen Terror gehandelt, die lediglich Uniformen der russischen Armee getragen hätten.
Einmal mehr war ich beeindruckt von der für mich offensichtlichen und unverfroren vorgetragenen Lüge des Staatsmannes eines mächtigen Landes, die nicht nur kurze Beine zu haben schien, sondern beidseitig beinamputiert war. Hierbei fragte ich mich genauso, wie beim erst in naher Vergangenheit liegenden Statement des Herrn Bush über seine Gründe für den Beginn des Irakkrieges: Wer glaubt eigentlich, was diese mit erschreckend geballter Macht und Verantwortung ausgestatteten Männer von sich geben? Menschen mit ähnlichen Persönlichkeitsstörungen? Dumme? Abhängige, die das eigene Hirn bei ihrer Amtseinführung an der Pforte der Großmächte abgegeben haben? Kleine Kriecher? Menschen, die davon träumen, auch einmal groß und mächtig zu werden?
Suchend schaue ich aus nach den unverbogenen Gemütern, die es wagen, des Kaisers neue Kleider beim Namen zu nennen.
So, schon am Morgen auf das Geschehen der Weltpolitik geworfen, begann ich meinen Schaffenstag. Wie der Zufall es wollte, stammte eine meiner heutigen Patientinnen aus der Ukraine. Sie war erkältet, also ein harmloser Anlass für den Arztbesuch. So wagte ich, sie nach ihrer Meinung zur Situation in ihrem Heimatland zu fragen, und sie antwortete mir ohne Umschweife. Sie habe viele Freunde in der Heimat, mit denen sie regelmäßig telefoniere. Alle hofften, dass Putin eingreife und das Land vor den Übergriffen durch die faschistischen Banditen schütze.
Wir verabschiedeten uns freundlich, und so glaube ich, dass ihr mein Entsetzen über die Antwort nicht aufgefallen ist.
Ich war völlig verwirrt. Ist aus Sicht dieser Frau mein vorgefasstes Denken über die Verhältnisse in ihrem Heimatland ähnlich realitätsfremd, wie ich das zur Wendezeit den westlichen, sogenannten Helfern unterstellt habe? Projiziere ich in arroganter Überheblichkeit meine Weltsicht auf die Gegebenheiten in der Ukraine? Irre ich mich, oder sind es die anderen, die eine eingeschränkte Sichtweise haben? Habe ich den Mut, das bisher Gelernte auf den Prüfstand zu stellen? Anders zu denken, als es täglich vorgedacht wird? Oder gibt es einfach nur ein, zwei oder mehrere Ansichten, die existieren, egal ob es einem passt oder nicht? Ist der Kaiser in Wirklichkeit gar nicht nackt? Sind am Ende wir die Entblößten?
Damals, in den Märchen, hatte alles seine Ordnung. Da gab es noch Gut und Böse.
Heute sind meine Gedanken von 2018 so von der Realität überblendet, dass es mir den Atem verschlägt. Vielen anderen auch.
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