Die Hühner vom grünen Tal
Vor Zeiten lebte im wunderschönen, grünen Tal ein Bauer und mit ihm seine Frau, seine sieben Kinder und einhundertsiebenundzwanzig Hühner. Die Familie bewirtschaftete einen großen Hof. Dank ihrer Hühner hatten sie täglich frische Eier. Die Wiesen des Bauern grünten üppig und das Getreide auf seinen Feldern trug goldene, pralle Ähren. Seine Kühe gaben gute Milch, und die Schafe versorgten ihn mit Wolle.
Dennoch war er unzufrieden. Er ärgerte sich darüber, dass nur sonntags Fleisch auf den Tisch kam und er an den übrigen Wochentagen mit Eiern, Gemüse und Kartoffeln vorlieb nehmen musste. Er meinte, einem Bauern wie ihm stünde es zu, jeden Tag Fleisch zu essen und davon so viel, wie er wolle. Die Schuld an dieser Misere gab er den angrenzenden Bauernhöfen, die sein Land umschlossen. Wegen deren Existenz konnte er seine Weideflächen nicht vergrößern. Es grämte ihn, von den Grenzen, die seine Väter und Großväter festgelegt hatten, eingeengt zu sein.
„Aber die Zeiten ändern sich“, beschloss er. „Ich werde mir nehmen, was ich brauche. Ich werde mir holen, was jemandem wie mir zusteht!“
Und er zog, ausgerüstet mit einem Jagdgewehr, auf die Weiden der benachbarten Gutshöfe, erlegte Kühe, Schweine und Schafe, um zu leben wie ein Fürst und seine Nachbarn zu vergraulen.
Natürlich blieb sein Tun nicht ohne Folgen.
Die anderen Landwirte waren entsetzt über die Boshaftigkeit und Grausamkeit des Talbauern. Sie schlossen sich zusammen, um gemeinsam dessen Wilderei Einhalt zu gebieten, nahmen die Weiden des Störenfriedes in Besitz, ernteten seine Felder ab und holten sich sein Vieh.
So kam es, dass der Bauer, der glaubte, ihm stünde der Besitz der Nachbarhöfe und deren Ländereien zu, selbst bettelarm wurde und kaum noch seine Familie ernähren konnte. Schließlich blieben ihm nur noch seine Hühner, alles andere hatten ihm die erzürnten Nachbarn genommen.
Vor Gram über diese Demütigung erschoss der Talbauer zuerst seine Familie, dann sich selbst. Einhundertzwanzig Hühner blieben übrig, sieben hatte er geschlachtet.
Als die vier Nachbarn vom Tod des Talbauern und seiner Familie erfuhren, kamen sie, um dessen Hof untereinander aufzuteilen.
Sie zogen mit Kreide ein großes Kreuz mitten durch den Hühnerhof, sodass vier Teile entstanden. Einen davon erhielt der Bauer von über dem Fluss, den zweiten nahm sich der Bauer von hinter dem Wasser, den dritten der Bauer von hinter dem Berg und der vierte ging an den Bauern vom weiten Land.
Letzterer begann nach einiger Zeit, einen besonders hohen Zaun um seinen Hühnerhofanteil zu bauen, um zu verhindern, dass seine Hühner in das Terrain der anderen drei Bauern überlaufen konnten und ihre Eier dort ablegten.
Nachdem plötzlich diese nahezu unüberwindliche Absperrung errichtet war, gackerten die Hennen aufgeregt und herzzerreißend, weil einige ihrer Küken gerade auf dem anderen Teil des Hofes gepickt hatten. Nun waren sie ein- oder ausgesperrt, je nachdem, auf welcher Seite des Zaunes sie sich gerade befunden hatten. Es brach ein Jammern und Wehklagen aus. Auch die stolzesten Hähne, die plötzlich drinnen oder draußen waren, konnten nichts daran ändern.
Denen, die sich am meisten aufplusterten, stutzte der Bauer vom weiten Land die Flügel. Diejenigen, die versuchten, über die Absperrung zu fliegen, wurden geschlachtet. Danach hatte alles seine Ordnung.
Im Laufe der Jahre wurde das Gras im Teil des eingezäunten Hühnerhofs immer spärlicher. Die eingesperrten Hühner hatten nachwachsendes Grün sofort wieder weggepickt, oder es war einfach platt getreten worden. Die Körner, die der Bauer vom weiten Land seinen Hühnern vorwarf, waren von hellgrauer Farbe, klein und wenig nahrhaft. Dennoch blieb nach der Fütterung niemals ein Körnchen übrig, es reichte gerade so für alle Tiere. Die Eier, die sie legten, waren deshalb nur klein, mit dünner Schale und blassgelbem Dotter.
Weil aber der Bauer vom weiten Land eine große, hungrige Familie hatte, konnte er den Hühnern nur die Körner zum Fressen geben, die nicht zum Brot backen taugten. Es störte ihn auch nicht sonderlich, dass die Eier nicht von guter Qualität waren. Ihm war es genug, dass er die Seinen damit ernähren konnte.
Die anderen Hühner, die nicht eingezäunt waren, liefen auf den Wiesen des Hofes herum und suchten sich selbst saftiges, grünes Futter. Und weil der Weg von hinter dem Wasser, hinter dem Berg und über den Fluss ziemlich weit war, kamen die Bauern nicht jeden Tag zum Füttern. Auch sammelten sie selten die Eier, weil sie selbst genug davon hatten. Sie sorgten für die Hühner eigentlich nur, weil sie ihnen nun einmal zugefallen waren. Die Futterkörner für den Winter waren goldgelb und reichlicher als das Federvieh sie hätte vertilgen können.
Die übrig gebliebenen Körner trieben im Frühjahr neue Halme, und im Herbst trugen diese pralle, goldgelbe Ähren. So erging es den freilebenden Hühnern von Jahr zu Jahr besser, und sie legten große Eier mit sattgelben Dottern.
Manchmal liefen sie zum Zaun, hinter dem die Hühner des Bauern vom weiten Land lebten, gackerten ein wenig mit ihren eingepferchten Verwandten und steckten ihnen ein paar gute Körner aus ihren Vorräten zu. Und sie fragten: „Warum fliegt ihr nicht einfach über den Zaun und kommt herüber? Ihr müsst es nur tun, dann geht es euch genauso gut wie uns.“
Der Zaun aber war so hoch, dass es für ein normales Huhn ein Riesenkunststück wäre, ihn zu überwinden. Einigen besonders geschickten Hähnen und Hühnern gelang jedoch selbst das.
Als der Bauer vom weiten Land dessen gewahr wurde, baute er aus der Umzäunung mittels eines Daches aus Maschendrahtzaun einen geschlossenen Käfig.
Noch trauriger als vorher saßen die eingesperrten Hühner auf ihren Eiern. Irgendwann fanden sie sich mit ihrem Schicksal ab.
Die neue Brut kannte nur die Welt im Käfig. Die Jungen schlüpften, fraßen, legten Eier und wurden geschlachtet. So war das Leben und nicht anders.
Zum Herumlaufen war kein Platz. Aber wozu musste sich ein Huhn auch die Beine vertreten? Dafür gab es keinen triftigen Grund.
Ein paar Überschlaue faselten etwas von Freiheit, und ein paar Romantiker drückten sich die Schnäbel am Zaun platt. Ihr Dummlinge, sagten die einen: „Die da draußen bekommen nicht jeden Tag Futter wie wir.“ „Aber sie haben wunderbar saftiges Gras, fette Regenwürmer und goldgelbe Körner“, erwiderten die anderen.
Im Laufe der Jahre veränderten sich die Käfighühner. Ihre Flügel verkümmerten, die Beine wurden dünner, die Schenkel weniger kräftig. Auch die Augen ließen an Schärfe nach, denn sie mussten nichts mehr auf der Erde suchen, es gab kaum noch Würmer, Gras oder gar Löwenzahn. Sie mussten keine Feinde mehr ausspähen, der Käfig schützte sie vor Habichten und Füchsen. Am Käfigboden sammelten sich Schichten von Kot und der Schmutz von alten Körnerspelzen.
So ging Jahr um Jahr ins Land. Die Bauern von hinter dem Wasser, hinter dem Berg und über den Fluss freuten sich, dass die ihnen zugefallenen Hühner auch ohne ihre Hilfe gediehen und kümmerten sich kaum noch um sie.
Der Bauer vom weiten Land aber wurde krank und gebrechlich. Seine große Familie geriet in Streit und drohte auseinander zu brechen, die Lebensbedingungen im seinem Land wurden immer schlechter.
Auch das Hühnerfutter wurde täglich dürftiger. Das wiederum hatte zur Folge, dass die Käfighühner noch blassere Eier legten als ehedem. Der Käfig war rostig und brüchig geworden, dem verarmten Bauern vom weiten Land fehlte das Geld für die Reparatur und einen neuen Anstrich.
Einige der eingezäunten Hühner waren nicht bereit, weiter zu darben und sich willenlos dem Schicksal zu ergeben. Sie begannen, am Zaun zu zerren und zu rütteln. Noch vor geraumer Zeit wären solche Unruhestifter umgehend geschlachtet worden. Aber jetzt waren dem Bauern seine Hühner nur noch eine Last und es war ihm egal, was mit ihnen geschah. Brächen sie aus, bräuchte er sich nicht mehr um sie zu kümmern. Damit wäre er eines seiner vielen Probleme los.
Die Mutigen riefen die Verzagten und Trostlosen auf, so lange gegen den Zaun zu laufen, bis er entzwei ginge. Die Feigen und Trottligen beobachteten dieses Tun argwöhnisch und warnten die Täter vor den Folgen. Als sie aber merkten, dass der Bauer nicht eingriff und sie sich vorstellten, an dem leckeren und saftigen Futter auf der anderen Seite des Zauns teilhaben zu können, wagten selbst diese, am Drahtgeflecht zu rütteln.
Und plötzlich geschah es. Der Zaun fiel.
Im Freudentaumel liefen die Hühner in die Freiheit. Sie füllten ihre Mägen mit gutem Futter und die Hühner draußen gaben den Befreiten von ihren Vorräten.
Sie feierten ein Fest, das dauerte sieben Tage und sieben Nächte.
Dann gingen die freien Hühner wieder ihrer Wege und kümmerten sich um ihre Saat und ihre Brut.
„Und was soll mit uns werden?“, fragten die befreiten Hühner.
„Wir geben Euch für den Anfang ein paar Körner“, boten die freien Hühner an. „Aber fresst sie nicht alle auf, legt Saat an, sonst habt ihr im nächsten Jahr nichts.“
„Aber ihr habt doch viel mehr zu fressen als wir“, erwiderten die Befreiten.
„Wenn die Saat gut aufgeht, habt ihr bald genauso viel Futter wie wir. Alles wird grünen und blühen. Ihr müsst nur fleißig sein und Geduld haben.“, belehrten sie die Freien.
Doch das neue Korn reichte knapp aus, um davon leben zu können und die Küken zu versorgen. Saat für das nächste Jahr blieb nicht übrig.
Nun baten die ehemaligen Käfighühner die Freien erneut um Körner. Die wiederum waren verärgert, dass die Befreiten nicht vernünftig gewirtschaftet hatten, diesmal borgten sie ihnen nur Körner aus ihren Vorräten.
Unter den Freien galten die ehemals Gefangenen als nachlässig und unsauber, weil das Terrain des ehemaligen Käfigs völlig verschmutzt und verwahrlost war. Die Erde war sauer und festgetreten, dementsprechend spärlich fiel die nächste Ernte aus.
Auch die Augen der Käfighühner mussten sich neu schärfen, um Fressbares aufzuspüren und um sich vor möglichen Feinden zu schützen.
Das, was sie in der Gefangenschaft gelernt hatten, war nicht mehr viel wert. Für sich selbst sorgen zu dürfen und zu müssen, hatten sie verlernt, sich zu wehren ebenfalls.
Die freien Hühner verstanden nicht, dass Dinge, die für sie selbstverständlich waren, ein aus der Gefangenschaft entlassenes Huhn nicht beherrschen konnte, und sie spotteten über deren Unbeholfenheit.
Nachdem viele Sommer ins Land gegangen waren, sah man jedoch nahezu keinen Unterschied mehr zwischen Freiläufern und ehemaligen Käfighühnern. Die Gefieder beider glänzten, die Schenkel waren kräftig, die Kämme wurden genauso stolz getragen. Nur auf barsches Ansprechen knickte der Kamm der ehemals Gefangenen für einen Moment ein, um dann mit deutlichem Energieaufwand stolzer als zuvor aufgerichtet zu werden.
Einige der ehemaligen Käfigbewohner kamen jedoch selbst nach dieser langen Zeit nicht mit dem freien Leben zurecht. Voller Neid sahen sie auf die Vorräte der anderen. Sie verfluchten die ewigen, immer wiederkehrenden Mühen des Alltags. Sie taten sich leid in ihrer Schutzlosigkeit. Sie sehnten sich zurück nach der Geborgenheit des Käfigs. In der Erinnerung wurde diese Zeit zur schönsten ihres Lebens. Zwar war der Himmel verhangen vom Maschendraht, aber die Feinde waren ausgesperrt. Zwar gab es kein grünes Futter und keine fetten Regenwürmer, aber sie mussten sich nicht selbst kümmern. Die kleinen, fahlen Körner wurden in den Käfig geschüttet, und alle fraßen dasselbe. Damals ging es wenigstens gerecht zu, schwärmten sie jetzt. Und lautstark riefen sie nach einem neuen Käfig. Aber niemand kam, sie einzusperren. Niemand nahm ihnen die Last des Alltags ab. Niemand sorgte für sie. Vor lauter Traurigkeit vergaßen sie, neue Saat zu legen. Vor lauter Gram legten sie die kleinsten Eier und brüteten die mickrigsten Küken aus. Ihren Junghühnern erklärten sie beizeiten, nur die anderen seien an ihrem tristen Schicksal schuld.
Die schon immer frei gewesenen Hühner beargwöhnten diese Jammergruppe und übersahen dabei geflissentlich, dass der größte Anteil der ehemals Gefangenen mit Begeisterung und großer Mühe einen heruntergewirtschafteten Hühnerhof wieder in üppige Wiesen und Felder mit gut stehendem Korn verwandelt hatte. Deren nächste Generation war bereits zu kräftigen und klugen Hähnen und Hennen herangewachsen, die von ihren Käfig-Eltern gelernt hatten, in misslichen Lagen erfinderisch zu sein und sich auch über Kleinigkeiten zu freuen.
Unter den Freiläufer-Hühnern hielt sich hartnäckig das Gerücht, sei selbst seien die klügeren Hühner von Gottes Gnaden. Die Tatsache, dass sie ihren Wohlstand ursprünglich den Bauern von über dem Fluss, von hinter dem Wasser und von hinter dem Berg verdankten, die ihnen nach der Aufteilung des Hühnerhofs ein wohlgefälliges Leben ermöglicht hatten, vergaßen sie dabei.
So hinterließen die Untaten jenes habgierigen und kampfeslüsternen Bauern vom grünen Tal auch noch Jahre nach seinem Tod einen tiefen Riss in seinem Hühnervolk. Das Erheben über andere hatte ihn letztendlich ins Unglück getrieben und seinen Hühnerhof in fremde Hände fallen lassen.
Und niemand kann wissen, ob all die Hühner vom ursprünglich wunderschönen und fruchtbaren, grünen Tal es jemals lernen werden, sich über jedes gefundene Korn und jedes gelegte Ei zu freuen, ohne heimlich hinüber zu äugen, ob nicht das Korn des Nachbarn ein wenig goldener und dessen Gelbes vom Ei ein wenig gelber ist.
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