MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS
07.05.2024
Vor einigen Wochen war in der Tageszeitung zu lesen, dass ein Projekt „Sprachmittler“ in Sachsen-Anhalt eingerichtet worden sei. Qualifizierte Dolmetscher ständen den Migranten ab sofort zur Verfügung, unter anderem für die Begleitung zu Arztterminen, die Übersetzung von Arztgesprächen, für das Ausfüllen von Formularen und Einverständniserklärungen vor medizinischen Eingriffen, sogar für Übersetzungen von psychotherapeutischen Gesprächen und vielem anderen mehr. Dadurch könnten ernste Folgen für die Gesundheit reduziert oder ganz vermieden werden, war zu lesen. Und die stark geforderten Strukturen des Gesundheitswesens würden dadurch entlastet.
So eine Geschichte wie die folgende wird in Zukunft vermutlich nie mehr geschehen.
Hilfe, ich bin eine Schildkröte
Vor vielen Jahren war meine Tochter beeindruckt, dass ihre Mutter des Englischen soweit mächtig war, im Urlaub ein Auto zu mieten und die nötigste Konversation mit dem Hotelpersonal zu bewerkstelligen. Allerdings, als ich sie nach ihrem Studium während eines Praktikums in New York besuchte, war ihr mein stümperhaftes Englisch hochnotpeinlich. Jeder entlarvte uns sofort als Touristen. Ein Jahr später, sie arbeitete in Dublin, war sie schon entspannt genug, mein miserables Englisch neben sich zu ertragen und froh zu sein, dass ich mich um meinen Kram selbst kümmern konnte und sie nicht ganztägig die betreuende Gastgeberrolle ausfüllen musste.
Doch seit sich mein Wartezimmer nahezu täglich mit Migranten füllte, bereute ich zutiefst, dass selbst meine Basis-Englisch-Kenntnisse äußerst begrenzt waren.
Sogar mein Russisch, das mir jahrelang in der Schule vermittelt worden war, reichte lediglich aus, um in seltenen Fällen zu verstehen, worum es ging, was der Patient von mir wollte. Versuchte ich dann, ein paar Russischbrocken von mir zu geben, war das kaum von Erfolg gekrönt. Mein Gegenüber verstand mich nicht, benutzte jedoch anschließend Worte, die für mein Ohr völlig identisch klangen wie jene, die ich aus meiner Gedächtniskiste herausgekramt hatte. Trotzdem fanden meine Bemühungen wohlwollende Anerkennung. Zwar haperte es mit der Sprache, aber auf der menschlichen Ebene war ein gutes Arzt-Patient-Verhältnis gebahnt.
Eines Tages erschien ein junger Mann in der Praxis, der weder des Englischen noch des Russischen mächtig war. Wir versuchten die Verständigung mit Händen und Füßen, er deutete auf seinen Bauch. Gut, dachte ich, wenn du aufmerksam seine Mimik beobachtest, brauchst du zum Bauchabtasten keine Worte. Und dennoch verschlug es mir die Sprache. Überall auf seiner Haut sah ich sie: unzählige wasserklare Bläschen mit einem kleinen roten Hof ringsherum. So eine Überraschung! Windpocken! Das hatte ich nach seinem Deuten auf den Bauch nicht erwartet und ließ reichlich Desinfektionsmittel über meine Hände laufen.
Aus seinen Dokumenten war ersichtlich, dass er zurzeit in einer Flüchtlingsunterkunft lebte. Hundert Punkte! Ein Dolmetscher musste dringend her. Meine Helferin klemmte sich ans Telefon.
Die Mitarbeiterin des Sozialamtes half uns stehenden Fußes. Zehn Minuten später meldete sich eine Dolmetscherin in gebrochenem Deutsch, sie sei gerade unterwegs und könne momentan nicht in die Praxis kommen. Nicht zu ändern, besser ein Dolmetscher am Telefon als keiner. Ich stellte auf laut. Sie übersetzte meine Worte schwungvoll und reichlich, so viel hatte ich überhaupt nicht von mir gegeben. Ob es sich dabei wirklich um die Informationen handelte, die übermittelt werden sollten, blieb im Verborgenen. Der junge Mann nickte beim Zuhören immer wieder. Ich interpretierte das als gutes Zeichen und hoffte, er habe das Wesentliche verstanden: Es sind Windpocken, die sind hochansteckend. Es dauert 2-3 Wochen, danach heilen sie von selbst ab. Er soll unbedingt zu Hause bleiben bzw. in seinem Zimmer, um die anderen Bewohner der Unterkunft nicht anzustecken.
Zum Schluss erhielt er ein Rezept für Tabletten gegen den Juckreiz und eine Salbe, die kühlen und die Bläschen eintrocknen sollte.
Diese wichtigen Hinweise händigten wir ihm auch schriftlich aus. So kann ihm die Übersetzerin alles noch einmal genau erklären. Wir entließen ihn durch die Hintertür, um den Kontakt zu den anderen Patienten zu vermeiden.
Jede Varizelleninfektion, also die Erkrankung an Windpocken, ist meldepflichtig. Im vorliegenden Fall hatte das besondere Brisanz, denn die enge Gemeinschaft vieler Menschen im Flüchtlingsheim gewährt den Viren ein leichtes Spiel bei der Ausbreitung. Die Mitarbeiterin des Gesundheitsamtes, deren Name mir unbekannt war, vielleicht eine neue oder eine Vertretung, war der Ansicht, es sei unbedingt ein Bluttest erforderlich, um sicher zu gehen, dass es sich tatsächlich um Varizellen handelt. Mit diesem Telefonat war meine Helferin betraut, und im Brustton der Überzeugung hörte ich sie sagen, wir hätten das Exanthem gesehen, wir wüssten, wie Varizellen aussähen. Es seien ganz sicher die Windpocken und nichts anderes, und dabei bliebe es. Ihr Statement amüsierte mich ein wenig. Doch so richtig lustig war das alles nicht. Über eine halbe Stunde hatte der knifflige Fall samt Konversation und notwendiger Bürokratie in Anspruch genommen, es musste desinfiziert und gründlich gelüftet werden, und das Wartezimmer war brechend voll.
Zwei Tage später saß selbiger junger Mann erneut im Wartezimmer. Dort konnte er nicht bleiben. Also wurde wieder eines der Sprechzimmer blockiert. Er hatte seine schwangere Ehefrau mitgebracht, die, wie sich herausstellte, englisch sprach und, wie sich später herausstellte, es nicht verstand.
Er reichte mir sein Handy über den Schreibtisch, das mit weißen Fingerabdrücken übersät war, dicke Spuren der Zinklotion, die er zur Behandlung der Bläschen erhalten hatte. Aus dem Gerät erklang die Stimme einer Übersetzerin, es schien eine andere zu sein als vorgestern. Doch auch diese reflektierte deutlich mehr Text, als ich in den Äther geschickt hatte. Daraufhin schien der Kranke sichtlich unzufrieden. Ich solle doch bitte etwas tun, dass die Krankheit sofort verschwindet. Mühevolle Erklärungsversuche, wieder und wieder. Dass die Windpocken naturgemäß ihre Zeit brauchen, um abzuheilen, war für ihn völlig unakzeptabel. Unwillig verließ er samt Frau die Praxis. Ich hoffte inständig, sie möge die Erkrankung in ihrem Leben schon gehabt haben oder aber geimpft sein.
Am Folgetag erschien er abermals, dieses Mal mit einem Arztbrief vom Notdienst des Krankenhauses. Diagnose: Varizellen, Therapie: symptomatisch. Der Patient hatte das Schreiben missmutig auf den Tisch geworfen, seine Frau schimpfte auf die dortigen Ärzte, das ging ziemlich gut mit ihrem Englisch. Zum wiederholten Male versuchte ich zu beschwichtigen. Ob meine Beteuerung, der Notarzt habe alles richtig gemacht, auf fruchtbaren Boden fiel, blieb fraglich.
Am Freitagnachmittag schlenderte ich, nachdem mich die Praxis nach Abtragung eines Papierberges von meinem Schreibtisch in das wohlverdiente Wochenende entlassen hatte, durch die Fußgängerzone unserer Kleinstadt. Ich verlustierte mich in einem Bekleidungsgeschäft und suchte nach einem passenden T-Shirt. Da entdeckte ich zwei Kleiderständer weiter meinen Varizellen-Patienten, der gemeinsam mit seiner Frau mit Oberhemden beladen in Richtung Umkleidekabine strebte. Am Halsausschnitt konnte ich deutlich erkennen, dass er, wie ihm geheißen, die Bläschen fleißig mit Zinklotion betupft hatte. Fassungslos starrte ich ihn an. Er grüßte freundlich zurück.
Am Montag traf das serologische Ergebnis der Blutprobe ein, die wir, trotz des Wissens um deren Nutzlosigkeit, abgenommen hatten. Diagnose: Varizellen. Was sonst? Wir schickten den Laborwert ergänzend zur Meldung an das Gesundheitsamt weiter.
Wiederum eine Woche später trudelte ein Befundbericht der Universitätshautklinik ein. Dort war eine Probeexzision eines Herdes vorgenommen worden, die Histologie der Gewebeprobe war beigefügt, sie beschrieb lediglich eine Entzündungsreaktion. Nicht überraschend.
Mich beschlich die Vermutung, ein ärztliches Fossil zu sein, ein Barfußmediziner, eine hundertjährige Schildkröte. Eine Diagnose zu stellen, nachdem man den Patienten lediglich angesehen und untersucht hat, scheint eine Verfahrensweise aus grauer Vorzeit zu sein. Zu billig. Nicht gegen jeden Einwand abgesichert. Meine Selbstzweifel währten zwei Wochen.
Nach drei Wochen erschien der Patient abermals in der Praxis. Er hatte sich den Fuß verstaucht. Wieder beschränkte sich mein Tun auf Untersuchen und gute Ratschläge. Die Schwellung war geringfügig, das Gelenk stabil, nichts knirschte, nichts schmerzte beim Abtasten, er konnte normal laufen. Und auch diesmal von mir die Erklärung, man müsse nichts weiter tun. Die Schwellung würde nach ein paar Tagen Kühlen und Schonen von selbst zurückgehen. Er sah mich mit einer Mischung aus Unzufriedenheit, Mitleid und Resignation an und entschwand.
Vermutlich wird mich in den nächsten Tagen der MRT-Befund einer traumatologischen Spezialsprechstunde erreichen.
Die Windpocken waren im Übrigen abgeheilt.
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