ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach
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MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES



Der Knopf


Ein trautes Ehepaar, Anfang ihrer Siebziger, kam regelmäßig zur Untersuchung in die Praxis und ließ sich Pillen, Sprays und Salben aufschreiben. Die Frau war agil und unternehmungslustig und erschien immer hübsch zurechtgemacht zum Arztbesuch. Sie war traurig über die starke Einschränkung ihres Mannes durch seine chronische Lungenkrankheit und beklagte sich, dass er deswegen kaum noch zu irgendwelchen Unternehmungen zu bewegen war.
Er war etwas kleiner und ein wenig geduckt, jemand der sich am liebsten in seine Garage zurückzog, wenn er es denn bis dahin schaffte, um dort herumzubasteln oder sich einfach nur zu verdrücken. Sonderlich gesprächig war er nie, dennoch ein freundlicher und sympathischer Zeitgenosse. Mehrfach hatte mich die Frau gebeten, eine Möglichkeit zu finden, ihren Mann wieder ein wenig fitter zu machen. Schwierig. Das Lungenemphysem forderte unumstößlich seinen Tribut, und auch der Pulmologe hatte keine Wunder vollbringen können.

Da ihm aber nun an manchen trüben Tagen sogar der Weg zur Garage zu beschwerlich war, hatte die Frau ihren Mann wieder öfter um sich und war ein wenig mit der Welt versöhnt. Ohnehin gewohnt, das Alltagsleben der beiden im Griff zu haben, störte sie es nicht sonderlich, dass er wegen der Luftnot, die ihn beim Bücken befiel, lediglich die obere Etage der Geschirrspülmaschine ausräumen konnte. Im Gegenteil, eigentlich nervte sie es, wenn er in ihren gewohnten Arbeitsabläufen herumfummelte.

Heute war einer dieser trüben Tage, die ihm schon beim Aus- und Anziehen die Luft nahmen, die pfeifende Atmung zwang ihn zum abgehackten Sprechen. Als er nach dem Abhören mit zitternden Händen sein Hemd soeben wieder zugeknöpft hatte, fiel mir auf, dass auf dem Schreibtisch noch die von meiner Helferin bereitgestellte Tetanusimpfung lag, zehn Jahre waren um, beide hatten wir im Gespräch die Spritze vergessen.
“Ist nicht schlimm“, hauchte er, „dann ziehe ich mich eben noch mal aus“, und begann, an seinen Manschettenknöpfen zu nesteln.
„Das ist nicht nötig“, bremste ich ihn, „es reicht, die oberen Knöpfe zu öffnen und das Hemd lediglich am Oberarm nach unten zu streifen.“
Da er durch den schnellen Ablaufwechsel und den zunehmenden Tremor völlig überfordert war, half ich ihm, das Kleidungsstück zu öffnen. Doch er begann schon, das Hemd nach unten zu zerren. Der Stoff war dermaßen gespannt, dass einer der perlmutternen Knöpfe drohte abzuplatzen.
„Vorsicht“, warnte ich, „wenn wir den jetzt abreißen, gibt es Ärger mit Ihrer Frau.“ Und noch während ich sprach, tadelte ich mich selbst wegen des überkommenen Rollenklischees in meinem Kopf. Mit „Dann müssen Sie ihn heute Abend wieder annähen“, versuchte ich, die Kurve zu kriegen.
„Na, soweit kommt´s noch“, er holte zwischendurch Luft, „dass ich mir meine Knöpfe selber annähe!“
„Können Sie nicht?“, fragte ich scheinheilig.
„Klar kann ich das“, antwortete er. „Früher habe ich sogar mit der Nähmaschine gearbeitet. Na ja, Sie wissen doch, was man im Osten so alles selber gemacht hat. Wir haben Stoffbeutel und Klammersäckchen genäht, und dann haben wir sie verkauft. Das hat Spaß gemacht.“

Als ich am späten Abend dieses Freitags nach Hause kam, hatte mein Mann den Wochenendeinkauf längst erledigt. Seine Hose mit dem ausgerissenen Reißverschluss allerdings lag schon seit Wochen auf meinem Zum-Nähen-Stapel.



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