ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS


27.06.2023


Das Frühstück


Fast schon unterwegs, da fiel es mir ein: Das Frühstück vergessen! Ich sprang aus dem Auto, rannte zurück, verdrehte mir an der Türschwelle das Knie, fluchte kurz, humpelte zum Kühlschrank und schnappte mir meinen Gemüsebeutel. Das war knapp. Sonst hätte es heute nur trockenes, trauriges Käsebrötchen gegeben. Das wäre wie Abfüttern, einzig und allein um weiter arbeiten zu können, zweckdienlich und freudlos. Ohne Gemüse zum Schnurpsen ist jedes Brot staubig wie eine Wüste ohne Oase.

Der Patientenparkplatz war schon reichlich belegt, ich wollte schnell darüber hinweghuschen, doch Herr Meier stellte mich. Sein Rücken schmerze immer noch, musste er mir dringend mitteilen. Dabei zeigte er auf die Stelle am Hintern, wo es am meisten wehtat. Mit „Seh-ich-mir-nachher-an“ entkam ich und schlüpfte durch die Hintertür ins Haus.

Noch während des Sachenwechselns von zivil zu weiß klingelte das Telefon. Die Schwester vom Pflegedienst gab die Blutzuckerwerte von Frau K. durch, die waren wieder viel zu hoch. Gab es Kuchen, Gummibären, Limonade? Nein, niemals. Nachdem die neue Insulindosis festgelegt war, packte ich mein Frühstück aus der Tasche, wollte es soeben in die Küche tragen, als die Helferin hereinschaute. Frau W. sei schon zum Verbandswechsel bereit, ob ich gleich mal draufschauen könnte, die Wunde bereite ihr Sorgen. Dann ein Anruf vom Krankenhaus, die Ärztin fragt nach dem Einnahmeplan eines gemeinsamen Patienten. Auch er habe wieder einmal keinen Medikamentenspiegel dabei gehabt! Merkwürdig, alle bekommen einen Plan mit, doch ist es müßig, danach zu fahnden, wo er abhandengekommen ist. Vermutlich irgendwo abgelegt und dann vergessen. Die Kollegin erhält Auskunft.
Es geht weiter im Takt, immer nach Bestellbuch, dazwischen ab und zu ein Akutpatient, von einem Sprechzimmer zum anderen. Herrn Meiers Rückenschmerzen kommen an die Reihe, jetzt mit Untersuchen, da, wo’s wehtut. Dann Bluthochdruck und eine Empfehlung zu mehr Bewegung, Durchblutungsstörungen und ein Hinweis aufs Rauchen, Zuckerkrankheit und ein Vortrag über Ernährung, einschließlich eines flammenden Statements für rohes Gemüse zu den Mahlzeiten anstatt noch einer Zuckerpille. Später, nach der Sprechstunde, wird mir meine Helferin verraten, wie sich die Diabetikerin im Wartezimmer lautstark über die Ernährungsberatung echauffiert hat: „Wie wenn die andauend Gemüse essen würde! Ich bin doch kein Karnickel!“

Die nächste Patientin war zur Knieoperation, das Gelenk ist noch immer geschwollen, zum Glück aber besser als vorige Woche. Während ich ein paar Übungen für zu Hause erkläre, sitzt sie noch auf der Untersuchungsliege, und mein Blick gleitet zu dem kleinen Wandschränkchen daneben. Da springt sie mir ins Auge, dominant wie das Lichtsignal eines Leuchtturms: eine Tüte mit Möhren, Gurkenscheiben und Radieschen. Hatte ich doch tatsächlich heute Morgen mein Grünfutter kurz auf dem Schrank abgelegt, und als dies und das dazwischenkam, war die Frühstückstüte vergessen. Mitten im Satz komme ich aus dem Konzept, verhasple mich. Die Frau stutzt, sieht mich verwundert und ein wenig besorgt an. Holprig bringe ich meine Ausführungen zu Ende, rette mich an den Schreibtisch und beschließe, die Entdeckung zu ignorieren. Ich zwinge mich, die Sache weiter im gewohnten Ablauf abzuhandeln, frage nach vorhandenen Schmerzmitteln, schreibe eine Arbeitsbefreiung und ein Rezept für Physiotherapie.

Doch bevor ich die Patientin verabschiede, verrate ich ihr, was mich dermaßen aus der Fassung gebracht hat. Sie lächelt, sagt, sie habe mein Gemüse schon beim Betreten des Sprechzimmers liegen sehen und sich gefragt, ob wir neuerdings in der Praxis Hasen halten würden. Mir verschlägt es die Sprache zum zweiten Mal.
Und trotzdem überlege ich seit einiger Zeit, diese Frühstücksbeilage zukünftig als dekoratives Element für die Diabetikersprechstunde zu wählen. Vielleicht untermauert das bei den Zweiflern die Glaubwürdigkeit meiner Ratschläge. Den Versuch ist es wert. Doch teilen werde ich mein Gemüse weder mit meinen Patienten noch mit irgendeinem Stallhasen.



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