ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT - FUNDUS


01.12.2021


Weihnachten 2015


Die Autobahn war fast leer, der Wagen glitt durch die sonnenüberflutete hügelige Landschaft, das Radio dudelte. Es war Weihnachten. Die Säcke mit den Geschenken, es passte unmöglich alles in einen, hatten wir bereits am Vorabend im Kofferraum verstaut. Nach einem gemütlichen Frühstück waren wir aufgebrochen. Von Kilometer zu Kilometer fiel der Stress der letzten Tage und Wochen von unseren Schultern, und es machte sich eine heitere Gelassenheit breit. Bayern 3 sendete Nachrichten. Wieder hatte eine Flüchtlingsunterkunft gebrannt. Dieses Mal nicht in Sachsen oder Sachsen-Anhalt, von der Presse als rechtsradikal und sich vernachlässigt fühlend gehandelt, sondern im friedlichen, ausgeglichenen Baden-Württemberg. Keiner im Auto hatte Lust, die Nachricht zu kommentieren. Zu viele, schier nicht enden wollende Diskussionen über das Flüchtlingsthema hatten den unruhigen Herbst und die Vorweihnachtszeit begleitet. Der familiäre Abendbrottisch hatte einer Talkrunde verschiedener politischer Fraktionen geglichen. Die Jugend wollte sofort helfen, ohne Wenn und Aber. Die Elterngeneration war eher für Abwägen, erst einen tragbaren Plan machen, dann handeln. Es hatte nervenzerreißende Meinungsverschiedenheiten gegeben. Die Jungen engagierten sich in der freiwilligen Flüchtlingshilfe, die Alten kämpften täglich in einem Wust von Vorschriften, Möglichkeiten und Notwendigkeiten, um der Herausforderungen Herr zu werden. Jetzt war Weihnachtsfrieden.

Wir verließen die Autobahn und fuhren dem Familienfest entgegen. Die Straße wand sich den Berg hinab und tauchte in das Tal ein, in dem malerisch an den Berghängen die Häuser der kleinen Stadt klebten. Alles war wie geleckt und wunderschön weihnachtlich geschmückt. Wir überquerten den Fluss, fuhren wieder ein kleines Stück bergauf und erreichten das am Hang gelegene Anwesen unserer Verwandtschaft. Schwanzwedelnd begrüßte uns der Hund, und ein großer Topf schmackhafter Hühnersuppe erwartete die Gäste. Das große Wohnzimmerfenster gab einen herrlichen Blick über das von der Wintersonne beschienene Tal frei. Der Fluss glitzerte, und die Häuser erinnerten an eine Spielzeugstadt. Die Industriebetriebe des wohlhabenden Ortes entzogen sich dem Blick des verzückten Betrachters. Hinter den sieben Bergen taten sie ihre Arbeit. Genau auf dem Berg gegenüber war eine Standseilbahn zu sehen, die von den Einwohnern Russenrutsche genannt wird. Sie verbindet eine Plattenbausiedlung, die schemenhaft auf dem Bergrücken zu erahnen ist, mit dem Stadtzentrum. Zu Beginn der neunziger Jahre wurden dort Umsiedler aus Russland einquartiert. Jetzt rutschen mit der Bahn nicht nur Irinas und Serjoschas, sondern auch Ranas, Abduls, Nurs und Mohameds vom Berg in die Stadt hinab.

Von Westen her rollte ein für den heutigen Besuch sorgsam handpolierter dunkelroter Kleinwagen auf die Stadt zu.
Nach dem Abbiegen musste Hanna die Sonnenblende herunterklappen. Zur Feier des Tages war sie heute Morgen noch schnell beim Friseur gewesen. Leider, so fand sie, war dieses Mal sein Werk weit weniger gut gelungen als jedes vorige Mal. Ihre Tochter auf dem Beifahrersitz trug ihren zweitbesten Pullover. Den besten hatte sie beim Frühstück mit Kakao bekleckert.
Hanna war es als Vertriebsleiterin gewohnt, mit Kunden zu verhandeln und Entscheidungen zu fällen. Heute jedoch kam sie sich vor wie ein kleines, dummes Mädchen. Es sollte das erste gemeinsame Weihnachten mit Ralf werden, der in diesem verschlafenen Nest eine Klempnerei betrieb, die seine Eltern in den fünfziger Jahren gegründet hatten und die seitdem gediehen und gewachsen war. Auch die Familien seiner Schwestern waren eingeladen. Die Neue sollte begutachtet werden. Sie durchfuhr den letzten Bogen der kurvenreichen Strecke, ließ das Ortseingangsschild und die Talstation der Standseilbahn hinter sich und tauchte ein in die weihnachtliche Kleinstadtidylle.

Dorothea sah fünfmal nach, ob sie die Mappe mit ihrem Text in die Tasche gesteckt hatte und ob der Text auch wirklich in der Mappe war. Auf die Brandblase auf ihrem Handrücken, die der Rand der Bratröhre hinterlassen hatte, klebte sie noch schnell ein Pflaster. Dann warf sie den Mantel über und machte sich auf den Weg. Es war das erste Mal, dass der Pfarrer das Verlesen der Weihnachtsgeschichte aus der Hand gegeben hatte. Schon von der Brücke aus sah sie die Chorsänger vor der Kirche stehen, sie musste sich sputen.

Nachdem wir die beiden Großmütter abgeholt hatten, machten wir uns auf den Weg zur Christmesse. Die Brücke über den Fluss war angeleuchtet, die Straßenränder von Bäumchen gesäumt, die mit Basteleien von Kindergartenkindern geschmückt waren. An der Ecke, auf der Terrasse über einem türkischen Lokal, stritten zwei Männer lautstark. Auf der Straße begrüßten sich die einheimischen Kirchgänger.
Beim Betreten der Kirche wurden die Gläubigen und auch die Ungläubigen empfangen und Dorothea half ihnen, Plätze zu finden. Auch uns unterstützte sie freundlich, die großmütterlichen Rollatoren zu verstauen. Das vierhundertjährige, in beige und weiß getünchte Kirchenschiff war hell ausgeleuchtet, der große Weihnachtsbaum mit unzähligen großen Sperrholzsternen geschmückt.
Die Begrüßung der Gemeinde durch den Pfarrer verlief sehr sachlich, er dankte einer Liste von Spendern und Unterstützern der Kirchenarbeit.
Unsere Omas kramten in ihren Handtaschen.

Dorotheas Herz raste. Erwartungsvolle Stille erfüllte den Raum, als sie mit ihrer Mappe nach vorn trat.
„Es begab sich aber zur der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, ...“ Die Anspannung fiel von ihr und über die Kirche legte sich eine schwere Feierlichkeit, die man diesem hellen und nüchternen Gotteshaus nicht zugetraut hätte.
Nachdem „Stille Nacht, heilige Nacht“ verklungen war, ging ein Raunen durch die Reihen und der barhäuptige, stramm gebaute Pfarrer erklomm die Kanzel.
„Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe“, wiederholte er die Zeilen aus der Weihnachtsgeschichte. An die nachfolgenden Sätze erinnert sich im Nachhinein niemand mehr genau, vergessen, nicht richtig zugehört, geträumt, verdrängt. Die Erinnerung trügt. So oder anders könnte es gewesen sein, was die alles beherrschende Stimme verkündete: „... denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge ...
Sie hatten sonst keinen Raum ..., keinen Raum als in der Flüchtlingsunterkunft, ... denn sie haben hier keinen Raum, ... jeder braucht seinen Raum, jene und auch wir, ... so wie Gott es vorgesehen hat ... Doch da gibt es eine Frau, die behauptet: Wir schaffen das!“ Das scharfe „S“ zerschnitt die feierliche Stille. „Ach du meine Güte!“, zischte es über die Gemeinde. „Güte? ... Gut sein ... Gut haben ... Wessen Gut? ...Hat das etwas mit Güte, mit gütig sein, zu tun? ... Was geschieht dabei mit uns? ... Ist das recht? ... Ist das gerecht? Denn es muss gerecht zugehen in diesem Land. Deshalb: Jedem das Seine!“

Wie vom Donner gerührt erstarrte Hanna auf der Kirchenbank. Hatte sie sich verhört? Sie sah sich um. Alle Mienen um sie herum waren verschlossen, ungerührt. Doch ein Hörfehler? Dann hatte sie nur noch einen Gedanken: Raus hier! Ihr Blick glitt zu Ralf und der Klempnerdynastie im feinen Tuch. Keine Regung. Merken die nichts? Wenn sie jetzt aufspringt, ist Weihnachten gelaufen. Und die Beziehung zu Ralfs Familie auch. Wenn er wenigstens einen Blick mit ihr tauschen würde! Dann sank sie in sich zusammen, fühlte sich gefangen in der Riege ordentlicher Bürger, in der sie nicht zum Rebellen werden wollte. Nachdem endlich „Oh, du fröhliche ...“ abgesungen war, taumelte sie wie benommen aus dem Gotteshaus, bog in die Altstadtgassen ein und ließ den Lärm der weihnachtlichen Kirchgänger hinter sich. Der Glockenklang hallte in ihr nach, und sie wusste, irgendetwas ist hier falsch.

Der Platz vor der Kirche war angefüllt von Weihnachtswünschen und Umarmungen. Die Oma schniefte noch in ihr Taschentuch. „Schön, dass der Pastor auch über uns Flüchtlinge gesprochen hat. Frohe Weihnachten!“ Sie stammt aus Schlesien und hat ihre Flucht nie verwunden. Die andere Großmutter, eine bodenständige, herzliche Frau, war dankbar, mit ihrer Familie zusammen hier zu sein. „Des woar oaber scheen!“, rief sie und küsste alle im Überschwang der Gefühle.
„War die Weihnachtspredigt nicht unter aller Würde?“, konnte ich endlich meinen Neffen, einen Junglehrer, fragen. „Pst“, hielt er seinen Finger vor den Mund, „nicht hier vor der Kirche. Hier kennt jeder jeden.“ „Na und“, entsetzte ich mich, „dann wird es wenigstens zum Stadtgespräch.“ Er verdrehte die Augen. Ein ehemaliger Schulfreund, Dorotheas Sohn, tippte ihn an die Schulter, sie begrüßten sich herzlich. Er hatte unser Gespräch gehört und fand die Predigt regelrecht kriminell. Auch er war an die Toraufschrift von Buchenwald erinnert worden.
Allmählich löste sich die Menschenansammlung auf dem Kirchplatz auf, jeder ging seinem eigenen heimischen Heiligen Abend entgegen. Dorothea trat aus der jetzt fast leeren Kirche und gesellte sich zu unserer Gruppe. Nach guten Wünschen und Lob für ihren Vortrag wurde auch sie von ihrer und unserer Familie zum Fauxpas des Pfarrers befragt. Völlig verständnislos über unsere Aufregung verwies sie auf die Loyalität ihres Chefs, der sich lediglich auf Platon und Aristoteles bezogen habe.
So schulterten wir diverse Weltsichten und machten uns auf den Heimweg. An der Ecke über dem Türken diskutierten noch immer die beiden Männer, unten im Lokal wurde geschwatzt und gelacht.

Zum Weihnachtsschmaus gab es Neunerlei, ein besonderes Geschenk für unsere Großmütter. Wenn man den Weisheiten aus dem Internet trauen darf, ist dies die unverzichtbare weihnachtliche Traditionsspeise aus Schlesien, um der Familie im kommenden Jahr Gesundheit, Fruchtbarkeit und Wohlstand zu bescheren. Auch im Vogtland werde dieser Brauch gepflegt, ist zu lesen. Es muss Stroh unter der Tischdecke ausgestreut sein und unter jeden Teller gehört eine Münze. Ganz wichtig ist, dass ein überzähliges Gedeck für einen fremden, bedürftigen Gast auf der Festtafel steht. Jedoch weder die Oma aus Schlesien noch die aus dem Vogtland hatte jemals in ihrer alten Heimat diese Traditionsspeise gekocht oder auch nur gegessen, wie wir erfahren mussten.
Der Junglehrer erzählte begeistert von seiner Schule, berichtete anschaulich vom Biologieunterricht. Um zu zeigen, wie er den Schülern die Begattung der Kröten erklärt, sprang er auf den Rücken seines Vaters. Die Mädchen kreischten und die Alten prusteten vor Lachen.
Anschließend wurde feierlich die Bescherung zelebriert, jeder hatte sich etwas Besonderes ausgedacht, ein Gedicht, einen Sketch, einen gemalten Witz. Und auf einmal war es Mitternacht.
Die Festgesellschaft trat hinaus. Die Stadt leuchtete und glitzerte im Tal, am gegenüberliegenden Berg markierten Lichter den Verlauf der Standseilbahn.
Auf den Balkonen des Kirchturms wurden Laternen geschwenkt. Die Turmbläser schickten den Weihnachtsfrieden in die Welt. Stille Nacht, heilige Nacht.



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