Foto vom 02.02.2023: Andreas Dietrich
EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT - FUNDUS
13.02.2023
Die Sicht der Menschen
Wie so oft beginne ich das Gespräch mit dem unverfänglichen Satz „Na, wie sieht's aus?“ „Schlecht“, ist die Antwort. Ich stutze. Der Blutdruck ist gut, das EKG in Ordnung, die Zuckerwerte haben sich verbessert. Erwartungsvolle Pause. „Wie soll es denn gehen bei der momentanen politischen Lage?“, fragt Frau M. zurück. „Ich habe den Krieg noch erlebt und kann mich ganz genau erinnern, wie wir uns mit der Mutter im Keller verkrochen haben. Seit dem Krieg in der Ukraine höre ich die Sirenen wieder jede Nacht. Jahrelang war ich die Bilder los, jetzt ist alles wieder da. Bleibt zu hoffen, dass sich unsere nicht einmischen.“ Bevor sie das Sprechzimmer verlässt, wünscht sie mir alles Gute und gesteht: „Ich bete jeden Abend, dass meine Befürchtungen nicht eintreten. Und ich bin nicht gläubig.“
Sie ist nicht die Einzige, deren alte Traumata wieder aufleben. Ganz gleich ob Frau oder Mann, die Kriegserlebnisse sitzen vielen dermaßen tief in den Knochen, dass sie sich jetzt in ihren Grundfesten erschüttert fühlen. Ein älterer Herr warnt: „Wie kann man sich nur mit dem Russen anlegen? Der hat uns schon einmal das Fürchten gelehrt. Mein Vater ist nicht zurückgekommen. Höchstwahrscheinlich ist er in der Gefangenschaft an der Ruhr verreckt.“
Am Nachmittag stehen vor dem Haus gegenüber drei Kleintransporter. Sie werden mit Hilfsgütern für die Ukraine beladen, die die Bewohner der Stadt zusammengetragen haben. Junge und Alte, Einheimische und Zugewanderte, Vereine, Sportgruppen und die Freiwillige Feuerwehr haben Spendenaktionen auf die Beine gestellt. Momentan ist die Welle der spontanen Hilfe ein wenig abgeebbt, alles soll zentraler organisiert werden.
Die ukrainische Regierung indes fordert Waffenlieferungen. In diesem Metier kenne ich mich nicht aus, weshalb ich auch nicht wissen kann, warum man nicht darum bittet. Die älteren Herrschaften kennen sich mit dem Krieg aus, leider, allerdings verstehen sie dieses Gebaren auch nicht.
Im Fernsehen wurde eine Umfrage darüber veröffentlicht, wieviel Prozent der Bevölkerung Waffenlieferungen befürworten und wie viele sie ablehnen, insgesamt wären 54 % der Deutschen dafür, 38 % dagegen. Dann hat man Ost und West miteinander verglichen, und ein deutlicher Unterschied war offensichtlich. Die Leute aus dem Osten lehnten die Lieferung von Kampfpanzern an die Ukraine weitaus deutlicher ab als jene aus den westlichen Bundesländern, 57 % der befragten Ostler seien dagegen, jedoch nur 33 % der Westler. Das verwunderte die Analysten.
Von Erstaunen getrieben, befragte man einen Konfliktforscher aus Bielefeld. Dieser wusste zu bemerken, dass Ostdeutsche eine stärkere Nähe zu Osteuropa wie auch zu Russland hätten. Da gebe es auch soziale Beziehungen, sogar Bindungen. Zum Zweiten sei im Osten der Rechtspopulismus stark geworden, der sich deutlich auf die prorussische Seite schlage.
Ich staune über die Erkenntnisse des Forschers, bei dessen Untersuchungen auch ich zu den Forschungsobjekten gehöre. Vermutlich fehlt mir aus diesem Grund die notwendige Außensicht auf die Versuchsanordnung.
Nachdem zuerst Demonstranten vor dem Brandenburger Tor gezeigt wurden, die mehr Diplomatie zur Konfliktlösung gefordert hatten, folgten Interviews mit Passanten in der Leipziger Innenstadt. Von vier Befragten lehnten zwei ältere Herrschaften die Waffenlieferungen ab, ebenfalls ein Mann Mitte vierzig, der nicht aus seiner Lebenserfahrung, sondern nur aus der Benutzung seines Verstandes schöpfen konnte. Ein weiterer älterer Herr konstatierte: „Es wird ja endlich Zeit, dass geliefert wird.“
Die Kommentatorin meinte im Anschluss an diesen Beitrag, dass die russische Propaganda im Osten mehr verfange, die Politik müsse dagegen steuern und sich besser erklären. Keine Erklärung jedoch brauche Herr X aus Nürnberg. Er wird als Kontrapunkt zu den Leipzigern inszeniert, ein Familienvater, der Hilfssendungen in die Ukraine organisiert. Vor der Kamera sagt er, dass die Notwendigkeit es notwendig mache, Panzer zu liefern. Von den Hilfslieferungen aus dem Osten kein Wort. Diese vereinfachte Schwarz-Weiß-Logik, die seit einiger Zeit Hochkonjunktur hat, erschreckt mich. Erinnerungen an die bedeutsame Bedeutung des siegreichen Sieges des Sozialismus drängen sich auf.
Auch denke ich seit dieser Sendung immer wieder über mein Verhältnis zu Russland nach. Habe ich eins? Einmal war ich zu DDR-Zeiten in der Sowjetunion, konnte nach mehrjähriger Anmeldung eine organisierte Reisebüro-Reise ergattern, war einen Abend in Moskau (ich habe den Roten Platz gesehen!) und zwei Tage in Krasnodar, um dort als einzigen Höhepunkt des festgelegten Programms einen Industriebetrieb zu besichtigen. Eine knappe Stunde blieb mir, um mich von der Reisegruppe davonzustehlen und mir eine Kirche anzusehen. Dann ging es für fünf Tage nach Sotschi zum durchorganisierten Badeurlaub. Von Land und Leuten habe ich nichts gesehen.
Den zweiten Versuch unternahm ich erst vor einigen Jahren, eine Stippvisite nach Sankt Petersburg. Es war wie früher. Man wurde überall durchgereicht, es gab nicht den geringsten Kontakt außerhalb des vorgegebenen Ablaufes. Nein, ich habe kein Verhältnis zu Russland, und ich glaube gespürt zu haben, es will auch keins zu mir.
Kontakt zu Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion habe ich erst, seit einige Spätaussiedler zu meinen Patienten gehören, die ich fast ausnahmslos als freundlich, aufgeschlossen und entgegenkommend erlebe. Genau wie ich es mag, wenn ältere Einheimische über sich erzählen, finde ich es fesselnd, von diesen Einwanderern etwas über ihr Leben zu erfahren. Eine ältere Dame berichtete über die Aussiedlung ihrer Familie aus der Republik der Wolgadeutschen nach Kasachstan, über das Berufsverbot ihres Ehemanns, der sich als „echter“ Russe mit „so einer“ eingelassen hatte, von Erlebnissen mit der Staatsmacht und schließlich von ihrer Umsiedlung nach Deutschland, und das ausgerechnet nach Merseburg an der Saale und nicht nach Meersburg am Bodensee.
Und was dachte ich als Schulkind über die Sowjetunion? War ich begeistert von diesem Land? In der Schule habe ich gelernt: von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen. Um das zu verinnerlichen, wurde „Wie der Stahl gehärtet wurde“ für die Kinder zur Pflichtlektüre erhoben. Pawel Kortschagin, der Held aus Ostrowskis Roman, hat mich damals befremdet, ja abgestoßen. Es sollte uns beigebracht werden, wie man zum Helden wird. In meiner Erinnerung hieß das, früh gebrochen zu werden, alles Elend klaglos zu ertragen und für die große Sache zu sterben.
Habe ich das Land deshalb gehasst?
Nein. Mir hat das Buch nicht gefallen.
Manchmal haben wir im Schulchor auch russische Volkslieder gesungen, wie „Stand ein Birkenbaum am grünen Raine“, „Katjuscha“ und „Oh Abendklang“, Lieder, die ich sehr mochte in ihrer sehnsuchtsvollen Schwermut. Zum Tag der Oktoberrevolution, als Gedenktag auch in der DDR begangen, trat unser Chor in der russischen Garnison auf. Nach einigen Kampf- und Freiheitsliedern, die zum unumstößlichen Repertoire für derartige Gedenkveranstaltungen gehörten, sangen wir auch diese Volkslieder. Bei den ersteren hörten die Soldaten zu, nach den zweiten tobte der Saal. Mit einem Bus waren wir in das Kasernengelände gefahren worden, dort waren alle Wände mit grüner Ölfarbe gepinselt, es roch nach Stiefelfett, und es war kalt. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, zur Toilette zu müssen. Das waren lediglich Löcher im Betonfußboden, um die reichlich Chlorkalk gestreut war. So also sah der vorgelebte gesellschaftliche Fortschritt in Richtung Kommunismus aus! Nie würde ich das haben wollen. Der Chlorgeruch an den Schuhen haftete trotz Putzen und Abspülen tagelang.
Habe ich wegen der Lieder dieses Land gemocht?
Nein. Doch die Lieder gefallen mir noch heute.
Und habe ich wegen der Stehklos das Land gehasst?
Nein. Aber ich fand sie eklig.
Und wie war das mit den Erwachsenen? Die waren sauer, wenn die Russen bei Manövern, die mindestens einmal im Jahr stattfanden, mit Panzern über das Kopfsteinpflaster des Dorfes gerollt sind und es davon zerkratzt und beschädigt wurde. Die rot-weiß gestreiften Schutzstangen an der Kreuzung, an denen wir, wenn uns keiner erwischte, Hüftumschwung übten, wurden abgeknickt, Verkehrsschilder plattgefahren und einmal sogar die Ecke eines Hauses angefahren, sodass man in die gute Stube sehen konnte. Bevor die Truppenbewegungen begannen, wurden an Kreuzungen und Abzweigungen Posten abgesetzt, die mit kleinen Fähnchen, ich glaube, es waren rote und gelbe, die Kolonne dirigieren sollten. Manchmal verbrachten diese Soldaten die gesamte Zeit des Manövers an der Straße. Zuweilen vergaß man nicht nur, die Posten abzulösen, sondern auch, sie mit Proviant zu versorgen. Dann brachten die Leute des Dorfes den übermüdeten und ausgehungerten Sowjetsoldaten etwas zu essen und zu trinken. Dankbar nahmen diese das an, waren jedoch in ständiger Angst, dabei erwischt zu werden.
Mochten die Menschen deshalb die Sowjetunion?
Die Trennung zwischen der als Bruderland bezeichneten Besatzungsmacht und dem einzelnen Menschen in Form des vergessenen Soldaten fiel niemandem schwer.
Alle wussten, dass mit dem „großen Bruder“ nicht zu scherzen war. Über den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 durfte nicht einmal gesprochen werden, in meinen Geschichtsbüchern existierte er nicht. 1968 mit der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde abermals die Machtposition der Sowjetunion manifestiert, und sie war für alle in der DDR eine feste Größe, mit der es zu leben galt.
Während sich der Westen Deutschlands am Wirtschaftswunder erfreute, hingen wir straff an der russischen Leine, die als Friedensgarant stilisiert wurde. Als gefährlichster Kriegstreiber und Erzfeind galten die USA, und wir bastelten in der Schule Plakate gegen den Vietnamkrieg, die aber nur an der Wandzeitung angepinnt wurden. Spontane Proteste (außerhalb der Kundgebungen von FDJ oder Partei) waren im Friedensland DDR nicht nötig, nicht einmal erlaubt. Die gab es im westlichen Teil des Landes, was allerdings auch dort im bürgerlichen Lager eher auf Ablehnung stieß. Die Rolle der USA im Vietnamkrieg fand ich damals als Jugendlicher tatsächlich schlimm.
Habe ich deswegen die USA gehasst?
Vor einem Krieg hatte ich schon Angst. Doch mochte ich „Spinning Wheel“ von Blood, Sweat & Tears, genauso wie Lieder von Bob Dylan und Janis Joplin. Und ganz banal Kaugummis.
Wenn in den Nachrichten Moskauer Militärparaden gezeigt wurden, bei denen nicht nur Panzer, sondern auch Interkontinentalraketen über den Roten Platz rollten, die, so war es die Lesart, auch uns vor dem Westen schützen sollten, stellten sich mir die Nackenhaare auf.
Dennoch mag ich die Jazz-Symphonie von Schostakowitsch, und die Begeisterung für Bulgakows „Meister und Margarita“ ist mir nie vergangen.
Das Tauwetter, das mit Gorbatschow anbrach, ließ uns hoffen. 1989 war ich mit in Leipzig zur Demonstration, und ich bin froh, dass diesmal alles glimpflich abgelaufen ist und die Zeiten der russischen Vorherrschaft im Osten Deutschlands vorbei sind.
Meine Mitarbeiterinnen, alle Mitte bis Ende der Achtzigerjahre geboren, haben keine offiziell verordnete deutsch-sowjetische Freundschaft mehr erlebt. Auf die Frage, wie sie die Lieferung von deutschen Panzern an die Ukraine erleben, ist die Antwort einhellig: „Schrecklich.“ Die fünfzehnjährige Tochter der einen habe Angst, dass es jetzt auch hier Krieg gebe könnte. Die Kinder der anderen sind jünger, auch sie werden Fragen stellen. Uns hat man damals erzählt, die Russen seien die Guten. Wir haben es nicht geglaubt. Sollen wir den Kindern jetzt erzählen, dass die Amerikaner die Guten sind? Oder die Deutschen? Ein Nachdenken über die Geschichte lässt bei all dem Zweifel aufkommen.
In meinem Berufsalltag fälle ich Entscheidungen niemals im Ja-oder-Nein-Modus. Wenn ein Patient meinem Therapievorschlag nicht folgt, versuche ich, einen Kompromiss zwischen Ja und Nein zu finden, um dem einen wie dem anderen Standpunkt gerecht zu werden. Die Behandlung soll so viel wie möglich nützen und so wenig wie möglich schaden. Jede Entscheidung ist das Abwägen von Nutzen und Risiko. Letztendlich entscheidet der Patient. Wenn ich durch offene, ehrliche und sachkompetente Herangehensweise sein Vertrauen erworben habe, wird er am ehesten meinem Therapieangebot folgen. Jedoch werde ich niemals versuchen, ihn zu einer Sache zu überreden oder gar Entscheidungen über seinen Kopf hinweg fällen. Und diese Form der Problembearbeitung ist fürwahr nichts Außergewöhnliches. In jedem Berufszweig, bei dem es auf vertrauensvolle Zusammenarbeit ankommt, ist sie üblich. Nur so kann es funktionieren.
Vielleicht sollten sich die Agierenden auf der politischen Bühne zurückbesinnen auf ihre früheren Tätigkeiten im Beruf. Sie wüssten wieder, dass das Leben im Zuschauerraum stattfindet. Sie würden sich, wie zu mutmaßen ist, daran erinnern, dass Denker mit anderen Sichtweisen auf die gepriesene bunte Welt keine Bedrohung, sondern eine Bereicherung darstellen, die es weder zu belehren noch zu verhöhnen gilt. Es erfordert Mut und Selbstvertrauen, sein eigenes rigides Schema infrage zu stellen, zuzuhören und abzuwägen, ungeachtet des Geschreis der Medien, die zuweilen vor Sensationsgeilheit vergessen, dass sie zum Berichten berufen sind und nichts auf dem Spielfeld zu suchen haben.
Während der Kampf um die Deutungshoheit der politischen Lage tobt, versuche ich auf dem Wochenmarkt russisches Konfekt zu ergattern, weil es mir auf schmackhafteste Weise mein Leben versüßt. Zu McDonald's gehe ich nur im Notfall. Die Ähnlichkeit des Burgers mit einer überfahrenen Katze bekomme ich nicht aus dem Kopf. Diese Wichtung deute ich jedoch in keiner Weise als Statement für oder gegen die östliche oder die westliche Welt. Beide haben ihre Berechtigung:
Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf, im Westen wird sie untergehn …
Tag für Tag. Unvergänglich. Hoffentlich.
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