ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT - FUNDUS


18.11.2023


Der späte Triumph


Bis vor kurzem war der verwaschene Schriftzug noch an der Fassade des Eckhauses zu lesen, Kolonialwarenhandel. Schon Alfreds Vater und auch dessen Vater hatten hier den Kleinstädtern von Prienitz Waschpulver, Lakritzstangen, Zwieback und Schnaps verkauft, also alles, was der Mensch zum Leben braucht.
In den Fünfzigerjahren wurde Alfred gezwungenermaßen zum Kommissionshändler des Staates gemacht, bekam dadurch tatsächlich wieder etwas zum Verkaufen geliefert und konnte vorerst sein Geschäft behalten.
In den Siebzigern wurde er schließlich zum staatlich Angestellten in seinem ehemaligen Laden. Er fühlte sich gedemütigt, musste jedoch gute Miene zum bösen Spiel machen, sonst hätte kurzerhand ein anderer an seiner statt hinter dem Verkaufstisch gestanden. Dann wäre er in die Elbe gegangen.

Seine Frau Ursula, die sich um die Bestellungen und die Buchführung gekümmert hatte, sollte nun nach dem Willen der Funktionäre in der zentralen Verwaltung arbeiten. Nach einem halben Jahr gab sie es auf, morgens kurz vor sechs in den Bus zu steigen, um erst abends nach sieben zurück zu sein. Sie verzichtete auf die jämmerlichen fünfhundert Mark und blieb zum Leidwesen des vierzehnjährigen Sohnes daheim.
Alfred war bemüht, dem Geschäft mit derselben Sorgfalt wie eh und je nachzugehen. „Bei Alfred“ war im Ort eine Institution. Die Frauen kamen, um den neuesten Tratsch zu erfahren, und für die Männer war der Laden die Stehkneipe an der Ecke. Im Sommer lümmelten sie draußen vor der Eingangstür an den rot-weiß gestrichenen Verkehrsschutzgittern der Kreuzung und hatten von diesem kollektiven Beobachtungsposten das Geschehen der Kleinstadt im Blick: Wer hat einen neuen Trabi? Wer kann Steine besorgen, und wo gibt es Exportbier? Wenn bei Alfred, dann nur unter dem Ladentisch. Auf der anderen Straßenseite, am Bushäuschen, parkten die Halbstarken ihre frisierten Schwalben und Sperber, der Anführer sogar eine MZ, und schon die kleinen Jungs hatten sich ihre Fahrräder mit bunten Felgenputzern aufgemotzt.

Gegen Mittag, wenn die Frauen bei der Arbeit oder am Kochtopf oder beides waren, und es selbst für die Hartgesottensten noch zu früh war für das erste Helle, schaute bei Gelegenheit die freundliche Frau Uhlendorf von der Sparkasse bei Alfred herein, und die Bankangelegenheiten, die dringend geklärt werden mussten, wurden häufiger. Elvira Uhlendorf war eine blässliche, aschblonde und ein wenig abgehärmte Erscheinung, erfreute aber mit einer üppigen Oberweite das Auge des persönlich betreuten Sparkassenkunden. Ihr Mann, einer von den Typen, die im Anzug unter der Lederjacke und einer Aktentasche täglich in die Kreisstadt fuhren, kam ohnehin erst mit dem letzten Bus zurück. So hatte Elvira, die von den anderen Frauen Eulenelvi genannt wurde, alle Zeit der Welt, sich aufmerksam um ihre Kunden zu kümmern.
Auch wenn mittags die Straßen im Städtchen wie im Schlaf dalagen, gab es muntere Augen hinter den Gardinen und Sansevierien. Geschwätzige Mäuler trugen Ursula die Beobachtungen über die intensive Bankberatung eifrig zu. Doch bereits einen Parteitag später wurde Elviras Mann in die Bezirksstadt versetzt, und sie folgte ihm ganz selbstverständlich.

Nach einiger Zeit kam zur Mittagsstunde Walburga Wollenweber hereingeschaut, sie versorgte Alfred mit den neuesten Büchern aus der Bibliothek. Es gab böse Zungen, die behaupteten, seit zwanzig Jahren habe die Bücherei nicht einen einzigen Neuzugang verbucht, von Walburga abgesehen, die kam aus Leipzig, aus der großen Stadt, etwas Exotisches also. Und niemals wurde Alfred lesend hinter dem Ladentisch gesehen, dennoch war er ein kluges Kerlchen. Er gab die Bücher seiner Ursula, die sie daraufhin vier Wochen auf dem Telefontischchen liegen ließ. Wenn jemand anrief, um ihr von der neuen Ungeheuerlichkeit zu berichten, wusste sie schon Bescheid.

In den Neunzigern durfte Alfred sein ehemaliges Geschäft von den Nachfolgern des staatlichen Handels zurückkaufen. Von einer Entschädigung wollten die nichts wissen. Für die Enteignung von damals war die jetzt gültige Rechtssprechung nicht zuständig.

Bald darauf wurde am Stadtrand ein Supermarkt eröffnet, wie die neuen Handelsketten die billig zusammengetackerten Kaufhallen nannten, die überall aus dem Boden schossen. Dort war alles bunt, roch ein bisschen parfümiert, und jeder konnte die Ware anfassen und befummeln. Manche Dinge waren billiger oder, was viel wichtiger war, sie wurden im abendlichen Webefernsehen angepriesen. Und was im Fernsehen kommt, muss gut sein, das wollten die Leute schon immer haben, jetzt konnten sie es endlich kaufen.
Alfreds weibliche Kundschaft war plötzlich verschwunden. Der kleinstädtische Infotreff war erst zum Supermarkt umgesiedelt und löste sich dann allmählich auf. Die Frauen mussten sich nicht mehr darüber austauschen, wo man Bananen oder besonders seltene Konserven ergattern konnte.
Die Kinder steckten ihr Taschengeld nicht mehr in Alfreds Bonbons und Lakritzstangen, sie wollten Süßigkeiten, in denen Spielfiguren aus Plastik versteckt waren, die sie sammeln, tauschen und in ihren Spielkisten anhäufen konnten.
Als Kunden blieben ihm die Stammtrinker, nachdem sie gemerkt hatten, dass es jetzt sogar bei Alfred Büchsenbier gab. Die meisten Männer aber pendelten nach Bayern, um Arbeit zu finden, das Waschmittelwerk und das Stanzwerk der Stadt hatten dicht gemacht, und bei der LPG lief es auch nicht mehr rund. Den Feierabend verbrachten sie statt vor Alfreds Laden in irgendeinem Wohnheim. Sonntags grüßten die Wochenendheimkehrer freundlich von weitem.

Nach schweren inneren Kämpfen gab Alfred den Laden auf. Die letzten Jahre bis zur Rente verbrachte er als Arbeitsloser. Im Supermarkt Kisten auszupacken, weigerte er sich strikt.
Seine Frau dagegen hatte Glück. Nachdem Walburga Wollenweber zurück nach Leipzig zur großen Bibliothek entschwunden war, sollte die vakante Stelle mit einer ungelernten Kraft besetzt werden. Auf diese Weise kam Ursula zu einem Job, und die Stadtverwaltung sparte eine Menge Geld.
Auf das neue Jahrtausend hatte das Ehepaar mit Krimsekt angestoßen, der dem alten Ladenbestand entstammte und fast keinen Bums mehr hatte.
Dann ereilte Alfred ein Schlaganfall. Fünf Jahre pflegte ihn seine Frau, ohne sich zu beklagen. Im sechsten Jahr ging er von hinnen, und viele seiner ehemaligen Kunden erwiesen ihm die letzte Ehre.

Ihr Sohn, inzwischen verheiratet und Vater zweier Kinder, besorgte der Witwe eine kleine Wohnung in Freudenstadt, wohin er wegen einer Ingenieursstelle mitsamt seiner Familie gezogen war.
Es dauerte geraume Zeit, bis Ursula wieder neue Kontakte knüpfen mochte. Dank ihrer Redseligkeit aber gelang dies ohne Mühe. Trotzdem riss der Kontakt nach Prienitz nicht ab. Sie telefonierte regelmäßig mit ihren Freundinnen, und sie schickten sich Nachrichten und Bildchen aus ihrem Leben. Ansonsten wollte sie mit Computern und so gefährlichem Zeug nichts zu tun haben. Deshalb bestellte sie zu Alfreds Todestag kein Gesteck bei einem Versandhändler, sondern rief im Prienitzer Blumenladen an. Sie erklärte der Verkäuferin genau, was sie haben wollte, bat sie, den Strauß auf Alfreds Grab zu legen, und schickte ihr in einem Briefumschlag das Geld für die Bestellung, den Gang zum Friedhof und noch ein paar Euro mehr.

Eine Woche später meldete sich ihre Freundin. Deren Stimme überschlug sich, sodass Ursula das Handy vom Ohr nehmen musste: „Stell dir das vor“, ereiferte sie sich, „gestern wollte ich ein paar Stiefmütterchen auf das Grab meiner Eltern pflanzen, und da musste ich auch bei Alfred vorbei. Jetzt halt dich fest! Manche Weiber sind so schamlos, die haben nicht einmal Achtung vor dem Tod. Mitten auf dem Grabstein lag ein riesengroßer Strauß roter Rosen! Ich weiß zwar nicht, welche der beiden Ziegen das war, egal, es ist einfach nur unverschämt. Erst habe ich überlegt, ob ich dir das überhaupt erzählen soll. Doch dann dachte ich, du musst das wissen.“
Ursula drückte zum Sprechen das Handy wieder ans Ohr: „Das freut mich aber! Und der Strauß sieht immer noch gut aus?“
Keine Antwort.
„Hallo, kannst du mich hören?“, vergewisserte sich Ursula unsicher.
Nach einer ewig langen Pause fragte die Freundin ganz behutsam: „Stört dich das überhaupt nicht?“
„Im Gegenteil“, und über Ursulas Gesicht breitete sich ein seliges Lächeln, „vielleicht kannst du dir das nicht vorstellen. Die fünfzig Rosen sind von seiner eigenen Frau.“


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