ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT - FUNDUS


 12.08.2023


App mit Hindernissen


Am Ende des Waldweges verlangsame ich meinen Schritt. Vorsichtig, bemüht, kein Geräusch zu machen, schleiche ich und hoffe, Rehe beobachten zu können. Allabendlich wechseln sie genau an dieser Stelle hinüber zu dem versumpften, alten Flussarm. Es ist windstill, zwischen den Bäumen hängt die Hitze des Tages. Plötzlich raschelt es im Gebüsch. Stehenbleiben, horchen. Es ist nur ein Vogel, der im Unterholz herumhüpft. Langsam gehe ich weiter, die Ohren und die Augen geschärft. Doch schon säumen die ersten Häuser den Weg. Und kein Reh hat sich gezeigt. Es wird wohl zu früh sein, bis zur Dämmerung bleibt noch fast eine Stunde.

An der Kreuzung, dort wo der Waldweg auf die Durchgangsstraße stößt, scheint es eine heftige Auseinandersetzung zu geben, eine junge Frau gestikuliert wie wild. Ihr Gegenüber, ein älterer Mann, hört offenbar gänzlich unbeeindruckt zu. Das Mädchen an seiner Hand verfolgt gebannt den Disput. Soeben hebt er bedauernd beide Arme, lächelt dabei, spricht vermutlich beruhigend auf die Frau mit den leuchtend grünen Sportschuhen ein, grüßt zum Abschied mit der Hand nach Autofahrermanier und verschwindet samt Enkelin in einem Gartenweg.
Die Zurückgelassene sackt resigniert in sich zusammen, wirkt irgendwie hilflos so am Wegesrand. Knatternd tuckert ein Moped auf der Landstraße entlang.

Nun habe auch ich die Kreuzung erreicht. Da entdeckt sie mich. Ihr Gesicht hellt sich auf und sie steuert schnurstracks auf mich zu.
„Vielleicht können Sie mir ja helfen“, sprudelt sie sofort los und streckt mir ihr Handy entgegen. Sie habe sich mit dieser App, dabei tippt sie auf das Display, eine Laufstrecke heraussuchen lassen, da könne man alles individuell einstellen. Und ihr habe der Vorschlag gut gefallen. So hatte sie heute die Tour an der Kirche des Nachbardorfes begonnen, war über den Fluss, durch die Wiesen zum Wald und zum See gelaufen. Der Abschluss ihrer Runde war eben dieser Waldweg gewesen. Nun wolle sie wieder zurück über den Fluss zum Nachbardorf. Aber die App habe nicht angegeben, dass das letzte Stück des Weges eine Landstraße ist, eine ohne Fußweg. Nun sei sie völlig verzweifelt. Ihr Auto steht in dem Dorf auf der anderen Flussseite. Und sie habe keine Ahnung, wie sie dahinkommen soll. Händeringend suche sie jemanden, der sie hinüberfährt.
Ungläubig starre ich die junge Frau an: „Das ist nicht einmal ein halber Kilometer, dann erreichen Sie schon das Ortsschild des Nachbardorfes, und kurz davor beginnt bereits an der Brücke ein ordentlicher Fußweg.“
„Und wie soll ich bis dahin kommen?“ fragt sie entsetzt.
„Na, laufen.“
„An der Straße entlang?“
„Stattdessen könnten Sie auch wieder ein paar Schritte waldwärts gehen und links den Abzweig zum Fluss nehmen. Der Deichweg führt von dort bequem bis zur Straßenbrücke.“
„Aber das ist doch viel weiter!“
„Schätzungsweise fünf- oder sechshundert Meter.“
„Aber es wird doch bald dunkel.“
„Selbst mit dem Umweg sind Sie in spätestens zwanzig Minuten an der Brücke und in dreißig an der Kirche im Nachbardorf, da müssen Sie nicht einmal joggen.“
Sie tippt auf ihr Handy: „Ein ganz schönes Stück. Und es wird dunkel.“
„Die Sonne ist noch nicht einmal untergegangen“, leicht genervt deute ich zum Himmel.
„Fahren Sie zufällig in die Richtung?“
„Nein, ich muss in die andere“, höre ich mich sagen und freue mich sogar ein bisschen darüber.
Abermals scheint sie vor Verzweiflung zu zerbrechen.
„Vielleicht finde ich noch jemanden, der mich hinfährt.“, spricht sie fast tonlos, während auch ich weitergehe und die arme Frau einfach stehenlasse.
Später, auf dem Heimweg, sehe ich sie im Rückspiegel noch immer am Straßenrand stehen. Und irgendwie fühle ich mich ein bisschen schlecht.



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