ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

LESESEITE FÜR KINDER UND HELLE ERWACHSENE



David und Goliath?


Eine Feldmaus, sie hätte David heißen können, wurde jedoch unter ihresgleichen Dada genannt, lebte mitsamt den Artgenossen am Feldrain. Jenes Feld lag seit Jahren brach, es wuchs darauf weder Klee noch Raps noch Luzerne, sondern Quecke und Disteln quälten sich mühsam durch dessen schollige Kruste.
Gegenüber befand sich eine Weide, abgegrenzt durch einen Elektrozaun. Dahinter residierte ein mächtiger Stier, dem sich niemand zu nähern wagte.
Zwischen dem Brachfeld und der Stierweide verlief ein Feldweg mit ausgefahrenen Spurrillen und tiefen Schlaglöchern. Kaum jemand benutzte ihn, er führte lediglich zum Wald des Bären. Dort wollte niemand hin, ausnahmslos der Bär selbst. Allmorgendlich fuhr er mit dem Traktor den Weg hinab zu seinen Feldern, ein leerer Anhänger schepperte hinter ihm her. Am Abend kam er vollbeladen zurück. Infolge des schlechten Weges wankte der Hänger hin und her, und die herrlichsten Leckerbissen purzelten den Mäusen geradezu vor die Füße. Der Bär bemerkte das wohl, doch ein paar Körner mehr oder weniger von der reichlichen Ernte waren es ihm nicht wert, behutsam zu fuhrwerken. Dank dieses Überflusses hatten obendrein die Feldmäuse ein bequemes Leben. Sie mussten die Vorräte nur noch in ihre unterirdischen Nester schleppen.

Seit einiger Zeit allerdings beobachteten die Mäuse, dass der Bär an der Biegung vor dem Waldrand bremste, ungeachtet des gefährlichen Zauns auf die Weide kletterte, an deren oberem Ende die Kühe grasten, und sich reichlich an der Milch bediente. Täglich füllte er einen großen Blecheimer randvoll, lud ihn in aller Gemütsruhe auf den Traktor und tuckerte weiter hinauf zum Wald.
Den Mäusen blieben vor Erstaunen die Mäuler offen stehen. Sie waren außer sich. Wie unverschämt! Der Bär reißt sich skrupellos die Milch unter den Nagel! Die gehört ihm nicht! Wir verurteilen diese Tat auf das Schärfste. Man muss dagegen vorgehen! Das sind wir unserem Gewissen schuldig!

Dada, die schlauste Maus vom Feld, schlug vor, dem Bären samt seinem Traktor die Fahrbahn zu versperren: „Kann er nicht mehr den Feldweg entlangfahren, kann er auch nicht mehr an der Kuhweide anhalten und folglich dort auch keine Milch mehr abzapfen.“
„Aber wenn der Bär nicht mehr auf dem Holperweg entlangkommt, fallen für uns keine Körner von seiner Ladung ab“, wandten ein paar lebenspraktische Feldmäuse ein, „wir werden Hunger leiden.“
„Wie egoistisch und unsolidarisch“, kreischten die anderen, „denkt an die armen Kühe und Kälber statt an euch selbst!“
Auch dem Stier waren weder der Milchraub noch die Aufregung der Mäuseschar entgangen. Zwar war ihm das Schicksal der Kühe und deren Milch ziemlich egal, aber in diesem Falle war das etwas anderes. Erpicht darauf, bald etwas Sensationelles zu erleben, schüttelte er seinen orange-braunen Schopf, was die Hörner noch eindrücklicher zur Geltung brachte, beugte sich über den Zaun und raunte den Mäusen zu: „Ja, dem Bären und seinem Traktor muss der Weg blockiert werden! Der Typ geht mir schon lange auf den Pansen. Dieser Schurke darf unseren Weg nicht mehr benutzen! Bestraft ihn! Und übrigens, das mit den Körnern, die ihr einbüßt, ist absolut kein Problem. Die könnt ihr locker von mir bekommen. Davon fresse ich jeden Tag eine Menge – für die Stiereskraft“, und er grinste.
“Wir wussten es, du bist einer von den Guten“, jubelten die Mäuse, „wie großzügig, dass du uns von deinem Kraftfutter abgibst!“
“Na, na, na, wollen wir mal nicht gleich übertreiben! So ist es ja nicht, dass ich mit euch teilen würde! Aber wenn ihr gründlich meine Kuhfladen durcharbeitet, findet ihr noch genug Körner für euch. Schließlich kann man ja nicht alles verdauen.“
Die Mäuse verzogen die Gesichter. Wie unangenehm! Und wie mühsam, die Körner aus dem Kuhmist zu klauben. „Andererseits“, gab Dada, die edelste aller Feldmäuse, zu bedenken, „für die Sache der Gerechtigkeit muss man auch bereit sein, Opfer zu bringen, sogar dann, wenn man sein eigenes Futter aus dem Kuhmist sammeln muss.“
Und weil keine der Mäuse sich gegen die Gerechtigkeit stellen wollte, begannen sie, Ästchen und Steinchen herbeizuschleppen, um den Weg für den Bären unpassierbar zu machen.
Am Abend hörten sie schon von weitem den Traktor tuckern. Als er an der Mäusebarrikade ankam, fluchte der Bär kurz, was das für ein Blödsinn sei, holte richtig Schwung und das Gefährt rollte über die Barriere hinweg.
Am nächsten Tag bauten die Mäuse einen noch größeren Haufen voller Unrat auf den Weg. Als der Bär alldem keine Beachtung schenkte, riefen sie lauthals: „Du Dieb!“ Der Bär lachte und sagte: „Dann bin ich's eben.“ Die Mäuse sahen ihm wütend hinterher.
„Wir müssen ihn vernichten“, verkündete Dada, die wohl klügste und mutigste Maus des Ackers, und strotzte vor Entschlossenheit.
Wieder war das abendliche Herannahen des Traktors vernehmbar. Kämpferisch stellte sich Dada mitten auf den Weg. Neben sich ein Häufchen kleiner runder Steine. Als der Bär in Hörweite war, rief Dada aus voller Kehle: “Halt, stehen geblieben! Was du tust, ist nicht rechtens. Ich lasse dich hier nicht mehr vorbei.“ Der Bär blieb stehen, lachte wieder und sprach: „Geh aus dem Weg, du kleiner Wicht!“ Da griff Dada einen der runden Steine, wickelte ihn flugs in seinen Mäuseschwanz wie in eine Steinschleuder und feuerte das Geschoss auf den Bären ab. Und tatsächlich! Der Stein traf den Bären mitten auf die Stirn. Die Mäuse am Wegesrand schrien: „Dada ist ein Held! “ Auf der Stirn des Getroffenen hatte sich blitzschnell eine riesengroße Beule gebildet. Der Bär schäumte vor Zorn. Unvermittelt trat er auf das Gaspedal seines Traktors und Dada wurde unter dem Profil des mächtigen Reifens zermalmt.

Nun liegt der Mäuseheld in der Spur. Sein fester Glaube an einen höheren Wert konnte ihn nicht vor dem Tod bewahren. Die schnöde Realität hat ihn einfach platt gewalzt.
Der Stier glotzt über den Zaun, besieht sich das Elend, schnaubt genüsslich durch die geblähten Nüstern und spricht: „So isses halt“, und erleichtert sich um einen großen Haufen.


 

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