ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


 LEGENDEN AUS MERSEBURG


Otto


Wer glaubt, ein Mäuseleben sei kurz und langweilig und drehe sich nur ums Fressen, der kann mit dem Lesen genau an dieser Stelle aufhören. Währenddessen sitzt die Maus Otto auf der Mauer der Domfreiheit und verrät uns, dass diese seit über tausend Jahren die Domburg begrenzt, in der Könige, Kaiser, Bischöfe und Domherren mit ihrem Gefolge residierten. Doch warum Domfreiheit? Weil für alle, die innerhalb dieser Mauern lebten, ein eigenes Recht galt, und sie waren frei von der Steuerpflicht der sie umgebenden Stadt. Die Domburg war ein Staat im Staate. Woher weiß das ausgerechnet eine Maus? Lassen wir sie ihre Geschichte erzählen:

Mein Vater namens Heinrich ist an allem schuld. Er war beseelt von der Idee, die Wiedergeburt Heinrichs I. zu sein, desjenigen, der vor mehr als tausend Jahren König des ostfränkischen Reiches war und von der Geschichtsschreibung als erster deutscher König bezeichnet wird. Meine Mutter nannte er seine Königin Mathilde, und niemand in der Verwandtschaft wusste mehr, ob sie tatsächlich so hieß. Es war genug, dass sie ihren Heinrich liebte.
Jahre später, nachdem ich schon unzählige Bücher in mich hineingefressen hatte, und zwar lesender- und nicht nagenderweise, erfuhr ich, dass die erste Frau des wahren Heinrich I. eine gewisse Hatheburg war. Deren Vater Erwin, ein äußerst begüterter Adliger, dem wohl auch die Altenburg in Merseburg gehörte, verstarb kurz nach der Heirat seiner Tochter. Damit hatte sich die Ehe Heinrichs mit Hatheburg wahrlich gelohnt. Das Erbe seiner Gemahlin ermöglichte ihm die Gründung der Königspfalz in Merseburg. Drei Jahre später ließ er sich scheiden, und Hatheburg ging wieder zurück ins Kloster. Ihr Erbe behielt er für sich. Danach ehelichte er die Adlige Mathilde und erweiterte damit seinen Machtbereich. Sie gebar fünf Kinder und wurde nach Heinrichs Tod als Heilige verehrt. Der erstgeborene Sohn des Königspaares war Otto, der von Heinrich zu seinem Thronfolger bestimmt und später sogar zum römisch-deutschen Kaiser gekrönt wurde.
Und jetzt kommt mein Schicksal ins Spiel, der ich als erster Sohn meiner Mäuseeltern Heinrich und Mathilde ebenfalls Otto genannt wurde.
Auch einige meiner Geschwister erhielten eigentümliche Namen, wie Gerberga, Hadwig, Brun oder Thankmar, aber keine Maus interessierte sich dafür. Nur mich hänselten die anderen Mäuse der Domstraße mit blöden Sprüchen wie: flotter Otto auf dem Kaiserthron!
So tat ich das, was vermutlich auch meinen Vater auf seine verrückten Ideen gebracht hatte. Ich saß in der Domstiftsbibliothek und las alles, was ich entziffern konnte. Aus losen Blattsammlungen, nur in Pergament eingeschlagen, Urkunden und Dokumenten erfuhr ich, wann welches Haus erbaut oder verkauft wurde, wann und zu welchem Preis es renoviert werden musste und worüber Gericht gehalten wurde. Es gab Bücher über Theologie, Recht und Wissenschaft, einige waren sogar handgeschrieben, denn in den Skriptorien der Klöster, den Schreibstuben, wurden nicht nur neue Werke verfasst, sondern auch ausgeliehene Bücher abgeschrieben, um sie dann in der eigenen Bibliothek vorrätig zu haben. Einige könnten sogar aus der Zeit König Heinrichs I. stammen, der nicht nur die Merseburger Königspfalz gründete, sondern auch die Johanniskirche errichten ließ, die Vorgängerin des Domes, aus deren Bibliothek wohl ein Taufgelöbnis aus dem 10. Jahrhundert stammt, das wiederum zuvor dem Kloster Fulda gehört haben soll.
Doch am liebsten schaute ich mir die Aufschwörtafeln an, leuchtend farbige, kunstvoll verzierte Wappendarstellungen der Herkunftsfamilien der Domherren. Die Bewerber für dieses hochgeachtete Amt mussten damit ihre adlige Abstammung nachweisen und dies in einem Ritual beschwören. Während ihrer Amtszeit wurden sie vom Domkapitel entlohnt und mit Privilegien ausgestattet. Nach ihrem Tod hinterließen die Domherren dem Domstift einen Teil ihres Erbes, nicht selten sogar die gesamte Bibliothek.

Ich saß also in den düsteren Gewölben des Domstiftsarchivs in der Domstraße Nummer 12 auf dem fast einen halben Meter breiten Fenstersims, der den dicken Feldsteinmauern aus dem 18. Jahrhundert geschuldet ist. Das Haus heißt Curia Procuraturae, die Kurie des Procurators, heute würde man ihn Verwalter oder Prokurist nennen. Domkurien sind die Häuser, in denen vormals die Domherren gewohnt haben. Wenn man aufmerksam durch die Domstraße, die Grüne Straße, über den Domplatz oder die Dompropstei geht, kann man weitere Kurien entdecken.
Von meinem Fensterplatz aus erblickte ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite den Turm des Krummen Tores, einem Teil der Befestigungsanlage der Domfreiheit. Den Menschen, die direkt an meinem Fenster vorbeiliefen, sah ich auf den Bauch, weil der Fußboden des alten Hauses unterhalb des Niveaus der Straße liegt. Der Raum war dicht an dicht, nicht nur an den Wänden, mit Regalen vollgestellt, die lediglich einen schmalen Gang dazwischen freiließen und deren Bücher mich so in den Bann zogen, dass mich Mensch und Maus da draußen kaum interessierten.

Curia procuraturae

Eines Tages entdeckte ich inmitten der Berge von Schriftstücken die Zaubersprüche, so wie es diesem Dr. Waitz geschehen sein muss, der vor 180 Jahren zu einem Studienaufenthalt in Merseburg geweilt hatte und dabei unter den für die Bibliothek als unbrauchbar aussortierten Büchern in einer über tausend Jahre alten theologischen Schrift auf die beiden Zauberformeln gestoßen war. Sie sind in althochdeutscher Sprache verfasst und vermutlich ebenfalls über tausend Jahre alt. Eine ist ein Zauberspruch zur Befreiung von Gefangenen, die andere ein Zauber für die Heilung der Beinverletzung eines Pferdes. Es war sensationell! Was hat der germanische Gott Wotan, der hierin angerufen wird, in einer kirchlichen Schrift zu suchen? Und Sinthgunt und Sunna und die zaubernden Idisen? Germanische Gottheiten haben versteckt in einer christlichen Gebetssammlung die Zeiten überdauert.
Ein langer Studiertag macht hungrig, doch die anderen Mäuse hatten längst die weggeworfenen Pausenbrote vom Schulhof der Goetheschule erobert. Da half nur, in die Schlacht zu ziehen, ganz im Sinne meines Namensvetters Otto I. Dieser hatte einerseits seine Familie und den Adel des Landes erzürnt, weil er auf der Unteilbarkeit des Königreiches beharrte, und andererseits kämpfte er gegen die Ungarn und die Slawen. Die berühmteste seiner Schlachten ist die auf dem Lechfeld, unweit von Augsburg. Dort soll Otto I. die Ungarn besiegt haben und danach als Retter der Christenheit geehrt und als Herrscher des Reiches geachtet worden sein. Vor der Schlacht habe er gelobt, im Falle eines Sieges in Merseburg ein Bistum zu Ehren des Heiligen Laurentius zu gründen. So gab er sich gottesfürchtig und setzte sich selbst ein Denkmal. 

Mein Magen knurrte immer lauter. Im Hinterhaus wohnte ein kampflustiger Kater mit seiner alten Dame, die ihm regelmäßig die Mahlzeit unter dem Dachüberstand servierte. Wie sie ihn nannte, wusste ich nicht. Für mich hieß er Bulcsú, genauso wie der Anführer des ungarischen Heeres, das Otto I. mit seinen Mannen auf dem Lechfeld geschlagen hatte. So schien es mir unvermeidlich, dass auch ich aus der Schlacht um das Katzenfutter siegreich hervorgehen würde.


Hinterhaus Curia Prucuraturae, Domstraße 12

Irgendwann, ich hatte es mir gerade auf meinem Stammplatz gemütlich gemacht, kreuzten Leute mit Mappen und großen Kisten auf. Am Hinterhaus machte sich ein Bagger zu schaffen. Dann waren meine Bücher in den Kisten, das Hinterhaus und der Kater samt Futter verschwunden.

Abriss Hinterhaus Domstraße 12

Obdachlos geworden, trieb ich mich in der Stadt und auf dem Domplatz herum. Meine Curia Procuraturae wurde hübsch renoviert, ebenso die Kurien Sigismundi und Simonis et Judae in der Nachbarschaft. 

Curia Sigismundi

Curia Simonis et Judae


Alles keine guten Plätze für Mäuse mehr. Und nirgends Bücher! Mir sicher, dass ich jetzt verblöden würde, lag ich im Kreuzgang des Domes herum und glotzte an die Decke. Wie aus weiter Ferne hörte ich eine zarte Stimme. Hallo, ich bin Edgitha, kann ich dir irgendwie helfen? Edgitha war die erste Gemahlin des wahren Otto I., und ich fragte mich, ob ich nun restlos verrückt oder schon tot war. Doch die freundlichen schwarzen Knopfaugen des Mäuschens, die mich ansahen, ließen mich vermuten, noch im Diesseits zu sein.

Kreuzgang des Domes

Edgitha kannte herrliche Orte, erschloss mir ungeahnte Futterquellen und wusste, wo es Bücher gibt! Sie führte mich in das Kapitelhaus, früher der Versammlungsort der Kirchenherren, jetzt sind darin  die wunderschönen Aufschwörtafeln und prächtige Bischofsgewänder zu bestaunen, ein ganzer Saal ist mit den Wappen der Herrscher und Bischöfe ausgemalt. Durch die Hintertür gelangt man in einen beschaulichen Terassengarten mit Obstbäumen und duftendem Lavendel. Und Edgitha fand ein Schlupfloch in das Gewölbe, in dem jetzt die wertvollen Handschriften und sogar die Merseburger Zaubersprüche zu sehen sind. Ich war glücklich.
Wäre da nicht etwas Eigenartiges passiert. Die Menschen trugen plötzlich Masken vor Mund und Nase, es kamen nur noch wenige zum Dom, irgendwann niemand mehr. Ohne Menschen gab es nichts Fressbares. Was ist nur los mit ihnen? Sind sie krank?
Ich konnte mich vage an ein Buch der Domstiftsbibliothek erinnern, auf dem schwungvoll Nuclus medica geschrieben stand, oder hieß es Nucleus medicinae? Jedenfalls war es beim Ausräumen in einer der Umzugskisten verschwunden. Vielleicht hätte es mir jetzt verraten, wo diese Erscheinung herrührt.

Meinen Gedanken nachhängend lief ich die Domprobstei gen Süden, vor der Curia Martini bog ich links ab zu den Domstufen.

Plötzlich fiel mir an der rechten Mauerseite ein eigenartiger Stein auf. Er sah aus wie ein Vogel mit spitzem Schnabel, einer Haube auf dem Kopf, und sein Gefieder verdrehte sich nach oben zu einer Spirale. Oder trug er etwas auf dem Rücken? Oder war es eine Schnecke? Völlig fasziniert von meiner Entdeckung kletterte ich an der Mauer nach oben. Kaum hatte ich diesen besonderen Stein berührt, wurde ich durch die Spirale, immer schneller werdend, herumgewirbelt und landete in hohem Bogen unsanft auf der anderen Seite der Mauer unter einem Nussbaum mitten in dem verwilderten Garten, der sich vom Domberg bis hinab zur Saale erstreckt.

Stein in der Mauer an der Domprobstei

Mein Schädel brummte. Vom Fluss stiegen Nebelschwaden herauf. Ein unheimliches Raunen und Sirren legte sich auf meine Ohren. Es war, als ob der Nebel Gestalt annähme und Frauen in wehenden Gewändern um den Baum tanzten. Das Sirren wurde zum Gesang:

Traum, Baum, Walnussbaum,
walle, walle, Walenuss,
Nuss mit Nukleus,
hieb drauf ein,
rieb drauf hin.
Hieb und rieb auf Nukleus,
rieb oh hin auf Nuklein,
Ribonuklein.
Ganz klein.
Hinein.
Sunna sprach 's kam von Wuhan,
Sinthgunt, die Schwester, bittet Wotan,
den Sonnenkranz zu entzweien
und die Menschen von Corona zu befreien.
Mit Gesängen wie diesen
flehen die Idisen
den Zauber zu erschließen,
entschlüsseln,
Entschluss,
hemmen das Virus,
und nesteln an den Fesseln,
zu entspringen
den Banden.

Wie betäubt lag ich unter dem Nussbaum. Die Nebel hatten sich verzogen, Sonnenstrahlen drangen durch das Dickicht. Langsam taumelte ich aus dem Garten zurück zur Domprobstei.

Eine Hochzeitsgesellschaft stieg die Domstufen herauf, alle hatten freie Gesichter, ich konnte sie lächeln sehen. Waren die Menschen plötzlich geheilt?
Lediglich die Braut war mit einem dem Kopf anliegenden Schleier bis zum Halse verhüllt, ein darüber getragener, mit Perlen bestickter rotsamtener Reif zierte ihr Haupt. Das weite, fließende Gewand erinnerte mich an Adelheid von Burgund, die zweite Gemahlin Ottos I. Der Bräutigam jedoch war gekleidet wie ein Herrscher der Jetztzeit, trug Businesshose und Slim-Fit-Sakko. Das Paar mutete an wie eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit, von Wissenschaft und Erfahrung, von Berechnung und Mildtätigkeit.

Domstufen

Die Maus Otto gelobte, dieses Wunder aufzuschreiben.
Doch wo ist solch eine Schrift in der Bibliothek aufzubewahren? Unter M wie Maus, unter G wie Geschichte oder Z wie Zauber?



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