Dieser Käfer ist keiner derer aus der Geschichte. Ich habe ihn in San Gimignano getroffen und keine Ahnung, wer er ist und wie er heißt. Vielleicht kann mir ja ein Käferkenner auf die Sprünge helfen.
MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES
Ich sehe was, was du nicht siehst
Ärzten eilt der Ruf voraus, ziemlich kluge Leute zu sein. Und da sie sich oft selbst für sehr klug halten, glauben sie zu wissen, was richtig und was falsch ist, und was es gibt und was es nicht gibt. Berichtet beispielsweise ein bekannter, schizophrener Patient von Käfern, die überall in seiner Wohnung herumkrabbeln, weiß der allwissende Arzt ohne weitere Nachfrage: Das Phänomen, kleine Tiere zu sehen, ist bei dieser Krankheit absolut nichts Außergewöhnliches. Und er weiß auch: In Wirklichkeit existieren diese Käfer nicht.
In eben jenem Glauben verharrt er solange, bis eines Morgens genau dieser Patient seine Laborüberweisung für die Blutentnahme über den Anmeldetresen reicht und beim Auseinanderfalten derselben blitzartig eine Handvoll winziger Tierchen über den Tresen flitzt und umgehend unter dem Formularregal verschwindet. Geistesgegenwärtig schnappt sich die Helferin eine Tüte, die für die Laborproben bereitliegt, und stülpt sie über die entfaltete Überweisung und über die Käfer, denen die Flucht ins schützende Dunkel noch nicht gelungen ist. Die Tüte wird hermetisch verschlossen.
In diesem Moment ruft bereits eine zweite Helferin den unbedarft dreinschauenden Patienten ins Behandlungszimmer, denn er steht für sieben Uhr fünfundvierzig zur Blutentnahme auf ihrer Liste. Umgehend platziert er sich auf der Liege und krempelt ohne Aufforderung den Hemdsärmel nach oben. Der Vorgang ist ihm geläufig, und er legt seinen Arm für die nun folgende Prozedur zurecht. Just als die Kanüle seine Armvene durchbohrt hat und das erste Blut bereits ins Probenröhrchen fließt, entfliehen abermals kleine Tierchen, diesmal aus seiner Kleidung. Vom grellen Licht geblendet huschen sie über das weiße Laken, um dann unter der Liege Tarnung zu finden. Die Helferin starrt entgeistert auf die Szenerie. Doch sie muss notgedrungen stillhalten, solange bis sich das Probenröhrchen vollständig gefüllt hat.
Als der Patient den Behandlungsraum verlässt, sind alle seine Mitbringsel schon im Nirgendwo verschwunden. Für in zwei Tagen ist sein Folgetermin zur Auswertung der Laborergebnisse vereinbart.
Die anschließende Suche nach den von der Liege entflohenen Käfern ist erfolglos. Was sind das nur für Insekten? Glücklicherweise sind einige Exemplare in der Plastiktüte am Anmeldetresen gefangen, die wir uns nun genauer ansehen können. Sie sind bräunlich, schlank, zirka drei bis fünf Millimeter lang und … sind das da am Kopf Beißwerkzeuge?
Der Schädlingsbekämpfer ist schon nach einer Stunde vor Ort. Seine Diagnose lautet: Bettwanzen. Sprachlosigkeit. In meiner Vorstellung sind diese Tiere nachtaktiv und lassen sich erst im Dunkeln auf ihre schlafende Beute fallen. Aber der Sachverständige weiß zu berichten, bei einem massiven Befall könne es tatsächlich geschehen, dass die Wanzen mit ihrem Wirt gemeinsam unterwegs sind.
Noch am selben Tag besprüht die Entwesungsfirma in der gesamten Praxis alle Ritzen, Ecken und Spalten, mit besonderer Sorgfalt die im Warteraum, die an der Anmeldung und jene in besagtem Behandlungsraum für die Blutentnahme. Nach dem ersten Schock sind wir jetzt etwas erleichtert. Allerdings dämpft der Schädlingsspezialist unsere Zuversicht und warnt: Eventuell übrig gebliebene Exemplare können bis zu zwei Jahren ohne Nahrung auskommen und ausharren, bis ihnen wieder ein neuer Wirt zur Verfügung steht. Er rät uns, sämtliche jemals auf dem Leib getragene Kleidung keinesfalls offen herumliegen zu lassen, auch nicht in Schränken, Taschen oder Beuteln. Alle Wechselsachen sollten in luftdicht verschlossenen Plastikhüllen aufbewahrt werden.
So packten wir seit diesem denkwürdigen Ereignis allmorgendlich unsere Privatsachen in eine mit Zippverschluss vakuumtaugliche Tüte. Dasselbe machten wir mit der weißen Hygienekleidung, bevor wir abends die Praxis verließen. Sämtliche Schmutzwäsche gelangte direkt vom luftdichten Verschluss in die Waschmaschine. All das war ein ungeheurer Aufwand, der Nerven, Zeit und Geld kostete.
Doch auf diese Weise ist es uns tatsächlich gelungen, dass niemand die kleinen Haustiere mit in seine Wohnung geschleppt hat. Und auch in der Praxis wurde nie wieder eines dieser Krabbeltiere gesehen. Entweder haben die Schädlingsbekämpfer hervorragende Arbeit geleistet oder die Parasiten haben resigniert diesen unwirtlichen Ort verlassen, an dem nachts niemand auf der Behandlungsliege schlief, an dem sie ihren Hunger hätten stillen können. Wenn ich abends spät, lange nach Beendigung der Sprechstunde, noch über meiner Büroarbeit saß, lediglich von einer Schreibtischlampe beleuchtet, habe ich schon ab und zu ängstlich in die Ecken gelugt, ob da nicht irgendetwas hin- und herhuscht.
Mit Hilfe des sozialpsychiatrischen Dienstes gelang es, auch den Patienten selbst zu entwesen, ihm neue Kleidung zu besorgen und ihm eine neue Wohnung zuweisen zu lassen. Seine bisherige wurde mehrfach dem Einsatz der Schädlingsbekämpfer unterzogen.
Als sich eines Tages herausstellte, dass der kranke Mann außer seinem eigenen Namen kein Wort schreiben und auch nicht lesen konnte, was er stets hatte vertuschen wollen, wurde klar: Er hat niemals gewusst, was auf dem Medikamenten-Einnahmeplan seines Nervenarztes stand, genauso wenig wie auf dem von uns ausgehändigten für alle anderen Pillen.
Um dem Abhilfe zu schaffen und weitere Missverständnisse zu vermeiden, suchte ihn fortan eine unserer Helferinnen, jene mit der Spezialausbildung Versorgungsassistentin, einmal pro Woche auf. Sie erkundigte sich nach seinem Befinden und sortierte seine Medikamente in eine Einnahmebox, denn die Namen auf den Packungen waren für ihn ein Buch mit sieben Siegeln. Und sie sah nach, ob er wirklich alles richtig eingenommen hatte. Seine Grundstimmung besserte sich merklich, und sogar sein Blutzucker lag jetzt fast im Normalbereich.
Der Patient war in seiner neuen Wohnung sehr glücklich und freute sich, einmal in der Woche netten Besuch zu bekommen. Und ich habe gelernt, dass man dem, was Patienten erzählen, unbedingt Glauben schenken sollte, egal ob sie einen Bluthochdruck, ein gebrochenes Bein oder eine Schizophrenie haben.
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