Hundstage
Es war einer dieser Hundstage, an dem fast alle Patienten über das beängstigende Symptom Schweißausbrüche klagen. Bei neunundneunzig Prozent der darunter Leidenden vergeht dies jedoch spontan mit dem Vergehen des Sommers, bei dem verbleibenden Prozent suchen wir ab September intensiv nach der Ursache des Übels. Zeckenbisse und Insektenstiche haben Hochsaison, und die Sonne brennt Sonnenschutzignoranten in die Arbeitsunfähigkeit.
Eine Teenagerin kam, begleitet von ihrer Mutter, zur Weiterbehandlung eines Hundebisses. Die Tollwutimpfserie und eine hochdosierte Antibiotikatherapie war bereits in der Notaufnahme des Krankenhauses begonnen worden. Heute sah man nur noch die schon nahezu abgeheilten Eindringstellen der Hundezähne, die Wundumgebung war noch etwas angeschwollen. Nach dem Unfallhergang befragt, blickte das Mädchen etwas schamvoll nach unten und sagte nur: „Das war blöd.“
Schon sprang die Mutter hilfreich ein. Es sei mitten in der Stadt an einem Fußgängerüberweg passiert. Im Strom der entgegenkommenden Leute sei auch ein Mann mit Hund gewesen. Das Tier habe sich nur kurz zur Seite gedreht und „zack“ zugebissen. Die Tochter könne sich überhaupt nicht erklären, warum. Der Mann sei ohne jede Reaktion weitergegangen.
„Und du hast ihn einfach laufen lassen?“, fragte ich entsetzt und vergaß dabei, dass ich mich zu Beginn des Gespräches für ein „Sie“ entschieden hatte.
„Der hat das doch gar nicht gemerkt. So, wie der aussah, hätte es ohnehin nichts genützt“, antwortete sie resigniert.
„Wieso? Bevor du dich fünf Mal impfen lässt?“
„Der Mann war ziemlich schmutzig“, sagte das Mädchen kleinlaut, und ich bemerkte erst jetzt, dass ich vermutlich die gleichen vorwurfsvollen Fragen gestellt hatte, wie all meine Vorgänger. Einfühlsam wie eine Dampfwalze.
Nach der Sprechstunde scheint die Abendsonne noch immer in die Fenster, ein Anlass, den Schreibkram auf dem Schreibtisch liegen zu lassen und zum Badesee zu fahren. Der ehemalige Tagebau war vor zwanzig Jahren geflutet worden und ist jetzt ringsherum an seinen Ufern mit Schilf und Gebüsch bewachsen. Wenn man den kurzen Weg vom Parkplatz durch das Auenwäldchen zurückgelegt hat, eröffnet sich ein herrlicher Blick auf den mehrere Kilometer großen See. Schwäne ziehen ihre Bahnen. Der Alltag fällt ab. Gemächlich schlendre ich über die Wiese zu dem angelegten Sandstrand. Genau dort erblicke ich eine wasserstoffblonde Frau mit weißem Fransen-T-Shirt, kurzen roten Hosen und ebenfalls hellblondem, wuscheligem Hund. In Gedanken sehe ich bereits fliegende Stöckchen neben mir ins Wasser platschen und einen danach hastenden Hund an mir vorbei paddeln. In meiner Faszination für das Naturschauspiel des Sees hatte ich völlig vergessen, dass die Liegewiese ein zumeist vermintes Gelände ist, und ich schärfe wieder meinen Aufmerksamkeitspegel. Inzwischen hat das Hündchen wieder das Stöckchen vor dem Frauchen abgelegt, läuft dann ein Stück in meine Richtung und schüttelt sich kräftig. Ich bin geduscht und bedient: „Das darf doch nicht wahr sein!“
Die Frau mustert mich feindselig: „Ich kenne Sie. Und ich habe Ihnen schon einmal gesagt, dass der See groß genug ist und Sie nicht unbedingt da rein müssen, wo ich mit meinem Hund bin.“
„Aber hier ist der Badestrand für Menschen, hier spielen sonst auch Kinder im Sand.“
Noch während ich spreche, denke ich mir, dass es besser wäre, zu schweigen. Alles Reden würde keinen Sinn haben. Doch da entdeckt der kleine Stöckchenfänger, dass jemand nett mit seinem Frauchen plaudert, springt mich vor lauter Freude an und stempelt mir seine matschigen Vorderpfoten auf das Kleid. Dann tänzelt er erwartungsvoll mit wedelndem Schwanz vor mir herum.
„Könnten Sie vielleicht mal Ihren Hund zurückrufen!“, fordere ich gereizt.
„Haben Sie sich nicht so, das ist doch nur Wasser“, ist die kurze Antwort.
Auf der Bank am Ufer sitzt lachend ein Mädchen, die braunen Haare zu Rattenschwänzen gebunden, und schaukelt vor Begeisterung über die Streitbarkeit ihrer Mutter wie wild mit den Beinen.
Nichts wie Sachen aus und wegschwimmen, beschließe ich. Doch noch bevor ich das Seeufer erreiche, kommt das Hündchen abermals angerannt und springt mir gegen die nackten Beine. Ich versuche, ihn mit einem scharfen „Aus!“ zu beeindrucken, das interessiert ihn jedoch überhaupt nicht. Der Gute will doch nur spielen. Er rollt sich auf den Rücken und streckt die Pfoten nach oben. Ich bin ein Spielverderber und kraule ihn nicht. Plötzlich schreit die Blonde: „Lassen Sie meinen Hund in Ruhe!“ Durch meinen Kopf huscht in kurzes Sirren. Ist hier ein Fehler im Drehbuch?
Als ich an mir herabsehe, entdecke ich auf meinem linken Oberschenkel drei lange, parallel verlaufende, etwas blutige Kratzspuren. Mist!
„Ist der Hund geimpft?“, frage ich die Frau entsetzt, wohl wissend, dass ich nicht mit Hundespeichel in Kontakt gekommen bin, aber man weiß ja nie.
„Natürlich ist mein Hund geimpft! Und von so 'ner kleinen Kratzwunde kriegt man nicht gleich 'ne Blutvergiftung!“
„Doch kann man“, entgegne ich, „das weiß ich, ich verdiene mir mein Geld damit, das zu wissen.“
„So sehen Sie schon aus“, lacht sie höhnisch, „wie wenn Sie sich mit Ihren Beinen Geld verdienen würden!“
Ich habe nicht die Größe, mich über das Beinkompliment zu freuen, sondern stänkere weiter.
„Sagen Sie mir bitte Ihren Namen und zeigen Sie mir den Impfpass von Ihrem Hund“, fordere ich sie auf und versuche, so autoritär wie möglich zu klingen.
„Komm, wir gehen weiter spazieren“, sagt sie wie nebenbei zu ihrem Hund. Der ist einverstanden, und auch das Mädchen läuft hinterher, nicht ohne sich noch einmal triumphierend umzudrehen. Sie schlagen den Rundweg um den See ein.
Ich stehe da wie ein begossener, dreckiger Pudel. Soll ich hinterher laufen? Da gibt es höchstens noch eine Schlägerei. Soll ich die Polizei rufen? Wegen so einer Bagatelle? Mein Handy habe ich weder hier, noch im Auto, und selbst wenn, würde es jemanden interessieren? Ich entschied mich für Schwimmen. Der leicht ziehende Schmerz im Oberschenkel ließ mich zweifeln, ob die Idee gut war. Mitten auf dem See musste ich lachen, kein frohes Lachen, es war dermaßen skurril. Danach blieb ein fades Gefühl. Verletzt.
Das Mädchen mit dem Hundebiss fiel mir wieder ein und meine besserwisserische Fragerei. Das hier war das wahre Leben zur richtigen Theorie.
Meine Kratzer habe ich tiefgründig desinfiziert, rabiat das letzte Sandkorn entfernt.
Zwei der Wunden sind noch als zartrosa Striche zu sehen, nichts ist passiert. Zum Glück hat der gesund verspielte, unerzogene Hund nicht gebissen. Und Blondi auch nicht.
Nun bleibt zu hoffen, dass ich meine Therapieentscheidung überlebe. Die Inkubationszeit ist noch nicht vorbei.
Am Wochenende bekommenen wir Besuch, Freunde mit Hund. Es wird eine weitere Hitzewelle vorausgesagt. Vielleicht sollten wir gemeinsam schwimmen gehen.
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