Foto: Gemälde "Die Dorfschule von 1848" von Albert Anker, Kunsthaus Zürich
MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES
Andauernd nur Urlaub
Der ältere Herr sitzt mir in der Sprechstunde gegenüber und fixiert die Schreibtischunterlage, an deren oberem Rand ein Kalender abgedruckt ist. Dann greift er quer über den Tisch, dringt in das Hoheitsgebiet meines Arbeitsplatzes ein, und deutet mit der Hand auf die Kalenderzeilen: „Sie machen wohl nur noch Urlaub, in Ihrem Plan ist fast alles blau gekennzeichnet!“
„Das ist ein gekaufter Kalender“, kommentiere ich konsterniert, „und das blau Markierte sind die Schulferien.“
Er zieht die Luft durch die Zähne und knurrt: „Naja.“
„Keiner arbeitet hier, ein Urlaub jagt den anderen“, setze ich angesäuert hinzu, doch die Spitze verpufft.
„Das ist überall so“, nörgelt er weiter.
„Früher waren alle fleißiger, stimmt's?“, gebe ich einen drauf.
„Natürlich“, bestätigt er meine Vorlage, „wir haben damals sogar samstags gearbeitet.“
„Ja, und ich bin samstags in die Schule gegangen“, ergänze ich.
„Aber nicht bei mir“, triumphiert er, „daran könnte ich mich erinnern.“
Und ich denke: „Gott sei Dank.“
Trotz permanenter Unzufriedenheit kommt dieser Vertreter der besseren Generation, bei dem „noch Zug war“ im Unterricht und dem der Stock als legitimes Erziehungsinstrument galt, seit Jahren mit pedantischer Regelmäßigkeit in meine Behandlung.
Kurz nach der Praxiseröffnung hatte er an einem Türrahmen einen Fehler entdeckt. Weil alles seine Ordnung haben muss, brachte er zum nächsten Termin einen Topf weißer Farbe mit. Er wusste, nachdem die Helferin ihn ins Sprechzimmer aufgerufen und den Blutdruck gemessen haben würde, könnte er dort einige Zeit unbeobachtet verbringen. Und so schritt er zur Tat. Als ich ihn beim Betreten des Zimmers völlig entgeistert anstarrte, setzte er mich davon in Kenntnis, dass er schnell fertig pinseln müsste, bevor wir mit der Konsultation beginnen könnten. Dieser Fleck habe ihn schon immer gestört.
Eines Morgens war er zur Blutentnahme bestellt, und irgendetwas hatte seinen Zorn provoziert. Wütend über die vermeintliche Unfähigkeit des Personals dieser medizinischen Dienstleistungseinrichtung verließ er das Haus, schlug die Tür ins Schloss, setzte sich ins Auto, gab Gas, wollte rückwärts wenden und krachte in vollem Schwung mit dem Heck seines Fahrzeugs in meine Garagentür. Angelockt durch den Lärm stürzten sämtliche Hausbewohner sowie meine Helferinnen an die Fenster. Doch den Wütenden beeindruckte weder das, noch die Spuren der Zerstörung. Der Kies wurde von den Hinterreifen aufgewirbelt, und er schoss vom Parkplatz. Es bot sich ein erschütterndes Bild: Die Holzplanken des Garagentors waren zersplittert, in der Mitte gähnte ein Riesenloch, selbst der Metallrahmen war verbogen.
Meine Mitarbeiter hatten stehenden Fußes die Polizei alarmiert. Sie konnte den Täter schon zehn Minuten danach auf dem Nachhauseweg dingfest machen. Den Beamten versicherte dieser, er sei auf dem Weg in die Praxis. Nach der Unfallaufnahme und einem Geständnis ließen sie den Flüchtigen den Weg wieder zurück zum Tatort fahren.
Er erschien mitten in der laufenden Sprechstunde. Grantig erklärte er, an seinem Missgeschick sei einzig und allein die Tatsache schuld gewesen, dass er nüchtern zur Blutentnahme habe kommen sollen und er Hunger hatte. Wohlgemerkt, er ist nicht Diabetiker, die Gefahr einer gefährlichen Unterzuckerung hatte zu keinem Zeitpunkt bestanden. Außerdem, so schimpfte er weiter, habe er eine kranke Frau zu Hause, um deren Rückenschmerzen ich mich völlig unzureichend kümmern würde.
Das gammlige Tor, wie er es nannte, würde er natürlich bezahlen, wenn ich wolle, auch an der Steuer vorbei. Nein danke, mein Guter! Hier hat alles seine Ordnung.
Die Kosten für das neue Garagentor hat er mir umgehend nach Zustellung der Rechnung überwiesen. Den Spaß mit den Handwerkern durfte ich allein genießen.
Zur Sprechstunde kommt der engagierte Patient weiterhin regelmäßig.
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