ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

INHALT / FUNDUS


MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS


10.01.2024



Abrechnung mit Weihnachten

 

Es trug sich kurz nach Weihnachten zu. Irgendwann. Der Tannenduft erfüllte das kuschlig warme Zimmer und verlieh dem verregneten Dezembertag eine heimelige Atmosphäre. Der Weihnachtsbesuch war am Vormittag abgereist, und es breitete sich eine wohlige Trägheit aus. Jeder hatte sich zum Lesen oder Musikhören in seine Ecke verzogen, und ich machte es mir auf dem Sofa gemütlich.
Da kam mir der Gedanke, man könnte so ganz nebenbei schon mit der Praxisabrechnung des letzten Quartals beginnen. Bis zu unserer Silvesterreise blieben ohnehin nur noch zwei Tage Zeit, also Laptop an und los.

In einer E-Mail, die sich erst drei Tage vor dem Fest in das Postfach eingeschlichen hatte, teilte die Kassenärztliche Vereinigung mit, dass im Nachhinein die Regeln für die Abrechnung geändert worden waren. Eine abgeschaffte Ziffer für die Vergütung der Behandlung chronisch Kranker wird rückwirkend ab Oktober wieder eingeführt. Und? Wen interessiert das? Einen Hausarzt, der sich drei Monate lang mit chronisch kranken Patienten befasst, jedoch keinen Heller dafür bekommt, sollte er diese öfter als ein einziges Mal in dieser Zeit behandeln. Doch die meisten kommen nicht nur einmal. Und nun sollen plötzlich für den zweiten Termin 4,60 Euro bezahlt werden. Jubel, Trubel, Heiterkeit.

Es blieb mir nichts anderes übrig, als bei allen chronisch Kranken, von denen es Hunderte gibt, nachzusehen, wie oft sie in der Praxis waren. Für alle, die ich zweimal gesehen hatte, durfte ich mir jetzt die fette Beute abholen, indem ich eine fünfstellige Nummer eintippte.
Man könnte über den Dingen stehen, sich eine schöne Zeit machen und auf die 4 Euro und Knipp pfeifen. Doch bei 500 Patienten sind das reichlich zweitausend Euro, bei 850 schon fast viertausend. Weil Hausärzte ebenso Kleinunternehmer sind wie beispielsweise Kioskbetreiber, beide verkaufen viele kleine Posten anstatt großer Transplantationen und Transaktionen, arbeiten sie sich geldgierig durch die Mühen der Ebene. Denn neue Computer müssen angeschafft werden, das alte EKG ist hinüber, und eine zusätzliche Helferin wird gebraucht, die Stammbesetzung arbeitet am Limit.
So sammelt der fleißige Kassenarzt zu Weihnachten die Haselnüsschen ein, die er zwar mit ehrlicher Arbeit verdient hat, jedoch nur dann bekommt, wenn er diese verdammte Nummer in seinen Computer tippt.
Eine absolut hirnlose Tätigkeit. Meine Gedanken gehen spazieren und die Augen fallen immer wieder zu. Ich suche nach Ablenkung, die nicht beim Tippen stört, aber verhindert, dass der Kopf vor Stumpfsinn auf die Tastatur fällt.
Vielleicht sollte ich es mit Fernsehen versuchen. Nachmittags. Auf dem Sofa sitzend. Freiwillig. Ein sicheres Indiz dafür, dass ich mich in einem bedauernswerten Zustand befinde. Ein Arztfilm. Das schlimmst mögliche Szenario.

Während ich, der mittelmäßige Hausarzt einer mittelgroßen Stadt in den Niederungen Mitteldeutschlands, zur Sicherung meiner Mittel mühsam tippend das Moos zusammenkratze, wandert der hochqualifizierte Hochgebirgsarzt auf bemoosten Hängen hinauf zu den höchsten Gipfeln und strahlt von der sonnigen Höh' über mein Sofa hinweg, ohne seine dynamische Ausstrahlung durch Verwaltungsakte trüben zu lassen, sein Himmel ist blau, die Vögel zwitschern, ein Murmeltier huscht durch die Kameraeinstellung.

Nächste Szene: In seinem gestylten Sprechzimmer nimmt der schöne Arzt im besten Alter (was auch immer das sein mag) höchstpersönlich dem Almbauern Drallhuber eine Blutprobe ab.
Hat wohl keine Helferin? Hätte lieber 4,60 Euro-Ziffern eintippen sollen, statt auf den Bergen herumzukraxeln.

Der Fernseharzt klopft dem Bauern großmütig auf die Schulter, macht ein besorgtes Gesicht und begleitet ihn persönlich nach draußen in das Wartezimmer.
Dort sitzt eine einzige Patientin, Frau Auerhahn, die der Doktor sofort vertrauensvoll zur Seite nimmt, um ihr mitzuteilen, dass er, selbstredend ebenfalls persönlich, bei seinem Freund im Krankenhaus auf dem Oberberg einen Termin für ihre Knieoperation vereinbart hat. Dann könne sie bald wieder ohne Schmerzen ihre Kühe auf der Unterberg-Alm versorgen.

Derweil tippe ich weiter: Blumenfeld, Margarete zweimal da, Nummer eintragen, Leberwurst, Albert, nur einmal da, weiter, Zaubelitz, Egon …

Nächste Kameraeinstellung: Der freundliche Doktor aus dem Gebirge sitzt an seinem Schreibtisch, tippt auch auf dem Computer herum, ein Arzt bei der Schreibarbeit, wie du und ich. Da klopft es an seiner Tür. Eine Frau in weißer Arbeitskleidung (er hat also doch eine Mitarbeiterin) lugt durch den Türspalt: Entschuldigung, aber die Laborbefunde müssen Sie sich sofort ansehen, Herr Doktor. Die Cholesterinwerte von Herrn Drallhuber sind deutlich erhöht.

Spannend, denke ich, und arbeite mich weiter durch die Patientenliste.

Der engagierte Arzt indes springt sofort auf, noch mit Drallhubers Laborbefund in der Hand schwingt er sich in sein rotes Cabrio und rast auf Serpentinen durch herrliche Landschaften mit sattgrünen Wiesen, glücklichen Kühen, kleinen Bergseen und üppigen Wildblumenwiesen. Endlich erreicht er den Bauernhof, wirbelt beim Bremsen den Sand auf, rennt los, reißt die Haustür auf, ruft nach Drallhuber, doch der ist nicht da. Verzweifelt läuft er zum Kuhstall, ruft abermals. Keine Antwort. Nur die Kühe gucken ihn gleichgültig an. Wieso sind die eigentlich nicht auf der sattgrünen Weide? Dorthin führt umgehend der Weg des Doktors, er joggt den Pfad hinan. Und plötzlich, neben dem Elektrozaun, da liegt er, der Bauer Drallhuber. Ein kurzer Blick, mehr ist nicht nötig, der Doc hat ja die Laborbefunde in der Tasche, und die Diagnose steht fest: Schlaganfall wegen erhöhter Cholesterinwerte.
Nächste Einstellung: Doktor Berg besucht seinen im letzten Moment geretteten Patienten im Krankenhaus und beschließt mit seinem Kollegenfreud, der anscheinend nicht nur Knie operiert, sondern auch Schlaganfälle behandelt, dass der Herr Drallhuber ganz dringend eine Ernährungsberatung braucht.

Phänomenal!
Ich stelle mir vor, dass ich täglich, nachdem vom Labor Befunde mit hohen Cholesterinwerten gekommen sind, losrenne, um jeden einzelnen Patienten vor dem Schlaganfall zu retten. Ich reiße die Eingangstür des Wohnblocks auf, auf den Summer zu warten ist Zeitverschwendung, sprinte die Treppe nach oben, stürme ohne Klingeln in die Wohnung und reiße gerade noch im letzten Moment meinem Patienten die Gänsekeule aus der Hand, in die er soeben reinbeißen wollte. Das war knapp.
Ich tippe weiter. Langerhans, Paul, Pangros, Antonia …

Mein Blick schweift zum Fernseher, und ich sehe den grau melierten Doktor mit seiner blutjungen Arzthelferin (jetzt ahne ich, warum er sie angestellt hat) im Wartezimmer Walzer tanzen, vor lauter Freude, dass der Drallhuber wieder genesen ist. Als sie sich küssen, verlässt Frau Auerhahn, die vorbeigekommen war, um sich für ihr neues Knie zu bedanken, rücksichtsvoll die Szene.

Abermals geht die Phantasie mit mir durch. Es ist nicht außergewöhnlich, zuweilen vom Schicksal der Patienten durchgeschüttelt zu werden, die Augen werden feucht, das Entsetzen schlägt auf den Magen oder vor Erleichterung entfährt mir ein Jubelschrei. Doch auf die Idee, mit meinen Helferinnen einen Freudentanz zu wagen, bin ich noch nie gekommen. Sie würden mich glattweg für verrückt halten. Vielleicht liegt es daran, dass ich keinen männlichen Arzthelfer habe. Aber es ist anzunehmen, auch ihn würde es verstören, schickte sich die deutlich betagtere Chefin an, ihn zum Tänzchen zu verführen. Und der Kommentar der Mitmenschen - die muss es aber nötig haben - ließe nicht lange auf sich warten.
Leider kann nicht jeder ein Bergdoktor sein. Ich stellte mein Laptop zur Seite und die Rouladen auf den Herd.



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