LESESEITE FÜR KINDER UND HELLE ERWACHSENE - FUNDUS
05.10.2023
Der Schakal
Der Schakal galt als mächtig, wenn auch nicht als sonderlich klug. Alle Tiere wussten, ohne viel Federlesens fraß er alles, wonach ihm gerade der Sinn stand, tot oder lebendig. Deshalb war er sehr erfolgreich. Seine Stimme hatte Gewicht. Was der Schakal sagte, war zwangsläufig richtig, und alle waren einverstanden.
Vor vielen Jahren hatte er den Bären zu seinem Feind erklärt. Also ward der Bär der Feind aller Tiere. Die wenigen Verbündeten des Bären waren Geächtete des Schakals.
Nachdem der Bär immer einsamer geworden war, weil viele aus seinem Lager in das des Schakals übergelaufen waren, konnte mit ihm als Feind kein Staat mehr gemacht werden. So musste dringend ein neuer gefunden werden, denn jeder respektable Herrscher braucht einen richtigen Feind. Wie sollte er sonst beweisen, wie mächtig er ist?
Der Schakal dachte nach, drei Tage und drei Nächte. Am dritten Tag des Grübelns hatte er eine Idee. Es gab da eine Geschichte, an die er sich aus seiner Kindheit erinnerte.
Seinem Großvater soll damals während der Wanderschaft im heißen Süden Folgendes zugestoßen sein:
Einstmals war dieser, erschöpft von der Anstrengung des Tages und in Ermangelung eines Unterschlupfes, gezwungen, in der Wüste unter offenem Himmel zu rasten. Die Nacht war kühl und wunderbar sternenklar. Obwohl das Knurren seines leeren Magens unüberhörbar war, hatte ihn nach einiger Zeit der Schlaf übermannt. Mitten in der Nacht aber schreckte er auf aus seinem herrlichen Traum von einer saftigen Mahlzeit. Doch es war nicht der Hunger, der ihn geweckt hatte, sondern das Rollen einer Sandlawine, die sich erbarmungslos auf ihn zuwälzte. Im Handumdrehen war der Schakal auf den Beinen, und er lief um sein Leben.
Endlich hatte er die Wüste hinter sich gelassen. Noch völlig außer Atem blickte er zurück, um aus sicherem Abstand noch einmal auf dieses ungeheure Naturereignis zu schauen.
Der Sandsturm hatte sich gelegt, und über der Wüste lag ein Kichern und Kreischen. Er traute seinen Augen kaum! Das war kein Sturm gewesen! Der Auslöser der Lawine waren Tausende von Wüstenrennmäusen, die auf ihn zugelaufen waren. Peinlich, peinlich. Der große Schakal war auf der Flucht vor Mäusen!
Niedergedrückt und mit eingezogenem Schwanz trat er den Heimweg an. Noch lange hallte das Mäusegelächter durch die Nacht.
Über diesen unerfreulichen Vorfall sprach man nur hinter vorgehaltener Pfote.
Der gute Ruf des unbesiegbaren Schakals musste durch Brutalität und Hinterlist täglich neu genährt werden. Dennoch blieb diese alte Geschichte ein missliebiger Kratzer auf dem Glanz der heldenhaften Familiensaga der Schakale.
Nun, auf der Suche nach einem neuen Feindbild als Ersatz für den momentan uninteressanten Bären, beschloss der Enkel, diesen alten Makel, der seinem Großvater anhaftete, endgültig aus dem Heldenepos seiner Ahnen auszumerzen und gegen die respektlosen Wüstenrennmäuse Vergeltung zu üben.
Er erklärte die Wüstenrennmaus zum aktuellen Feind Nummer Eins. Sie sei die Ausgeburt des Bösen und habe, wie dem Geheimdienst des Schakals bekannt sei, bereits konkrete Pläne, das gesamte Tierreich zu überrennen.
Deshalb wurden alle Landtiere aufgefordert, die Wüstenrennmäuse zu vernichten, und zwar so schnell wie möglich, noch bevor sie ihren teuflischen Plan in die Tat umsetzen könnten. Der Schakal wusste, dass nur mit einer großen Zahl von Verbündeten, denen er sich selbstverständlich an die Spitze stellen würde, das Machtspiel ein wahrlich erhabener Genuss sein würde.
Die anderen Tiere waren darauf bedacht, den Schakal nicht zu verärgern. Niemand nahm sich heraus, ihn zu unterschätzen. So war das Thema Wüste in aller Munde.
Der Wolf schickte eine Anfrage an den Schakal, was denn eine Wüstenrennmaus so gefährlich mache. Der Schakal war brüskiert und sandte ihm die Botschaft: Wenn jemand vorgibt, nicht zu wissen, dass die Rennmaus eine Ausgeburt des Bösen ist, gerate er unter Verdacht, mit diesem Getier unter einer Decke zu stecken.
Als der Wolf das Antwortschreiben las, glaubte er, sein Freund, der Schakal, sei gänzlich von Sinnen. Vorsichtig schlug er beim Rat der Tiere vor, die Rennmaus in Ruhe zu lassen, solange sie niemandem ein Leid antäte.
Der Schakal schäumte vor Wut. Einer seiner treuesten Freunde verweigerte ihm die Gefolgschaft! Er ließ den Wolf wissen, dass er ihn nicht nur für grau, sondern auch für deutlich senil hielte. Der Wolf schwieg zu diesem Vorwurf weise.
Nachdem der Luchs die Aufforderung zum Kampf gegen die Wüstenrennmäuse erhalten hatte, putzte er sich sehr, sehr lange seine Ohren. Danach leckte er sich ausgiebig die Pfoten, besonders zwischen den Zehen, und besah sich die herrlichen Krallen. Dann streckte er sich in alle Richtungen, schüttelte den Kopf über das Ansinnen des Schakals, sprang auf den höchsten Baum und prüfte gründlich die Umgebung. Nichts Beunruhigendes war zu sehen.
Als das Wiesel die Kunde vom Krieg gegen die Rennmäuse erreichte, bekam es Angst. Der Schakal war sehr mächtig. Sich ihm zu widersetzen wäre Selbstmord. Es würde mit ihm kämpfen müssen, das Wiesel sah keine Alternative. Allerdings war es auch eine gute Gelegenheit, sich in der Gunst des Schakals heraufzudienen, denn ihm war nicht entgangen, dass sich die anderen Tiere seinem Ansinnen entzogen. Es wäre die Gelegenheit, sich als ganz besonders treuer Freund zu erweisen und vielleicht sogar ein Stück vom Kuchen der großen Macht abzubekommen. Es nahm all seinen Mut zusammen und beschloss, sich als Verbündeter anzubieten.
Ein Heer junger, patriotischer Schakale war für die gerechte Sache von Schakalien angetreten, um die gefährlichen Wüstenrennmäuse gnadenlos aus der von ihnen bewohnten Wüste zu vertreiben. In einer Spezialausbildung war diese Elitetruppe auf ihren schwierigen Einsatz vorbereitet worden. Es war erklärtes Ziel, binnen drei Tagen siegreich zu sein und ihrem Befehlshaber sowie dem gesamten Tierreich eine entmauste Wüste präsentieren zu können.
Die Sonne brannte den Schakalen erbarmungslos auf das Fell. Ihre Zungen waren trocken. Der Sand knirschte zwischen den Zähnen. Der Durst quälte sie. Sie sahen die Wüstenmäuse am Horizont entlangflitzen. Liefen die Schakale los, um sie zu fangen, verschwanden die Mäusefeinde in ihren Verstecken, um an anderer Stelle unvermittelt wieder aufzutauchen. Die gesamte Wüste schien von ihrem Gangsystem durchzogen. Als die ersten Schakale verdurstet waren, fragten sich die Kämpfer, warum sie um Himmels Willen in der Wüste waren, um Rennmäuse zu jagen. Niemand wagte es, diese Frage laut zu stellen.
Auch am nächsten und übernächsten Tag blieben gesunde, kräftige Tiere im glühenden Wüstensand liegen. Viele sollten ihnen noch auf diesem grausamen Wege folgen.
Als die Kunde über das massenhafte Sterben seiner hoffnungsvollen Kämpfer an das Ohr des Oberschakals drang, wurde er noch wütender. Er beklagte, die Wüstenrennmäuse hätten auf hinterlistige Art und Weise die jungen Schakale auf dem Gewissen, und forderte von allen Tieren, gegen diese barbarischen Schurken anzutreten. Den anderen Tieren lief ein kalter Schauer über den Rücken, und sie versuchten, den Schakal zu bewegen, die Mäuse in Frieden zu lassen. Doch der Schakal beschimpfte die Wölfe, Luchse, Tiger und Panther als Schlappschwänze und ewig Gestrige.
Jetzt allerdings forderte er die Wiesel auf, ihr Versprechen einzulösen und Seite an Seite mit den Schakalen in den Kampf zu ziehen. Wohl oder übel mussten sie ihr Wort halten.
Die Wüstenrennmäuse aber foppten die Krieger nach wie vor. Tagelang irrten die Schakale mit ihren neuen Kampfgefährten, den Wieseln, durch die Wüste, ohne auch nur eine einzige Maus zu erwischen. Die Schakale wurden immer hungriger und durstiger. Proviant und Wasservorrat waren lange aufgebraucht. Und der Nachschub erreichte die in der Wüste verstreuten Kämpfer nicht. Also mussten die Schakale mit dem vorlieb nehmen, was da war. Das waren die Wiesel. Zwar wurden die Schakale von den kleinen Wieseln nicht richtig satt, aber konnten mit deren Hilfe überleben.
So hatten die Wiesel die einzigartige Gelegenheit, sich als wahre Freunde der Schakale zu erweisen, bis dass der Tod sie voneinander schied.
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