27.02.2022
Das treusorgende Eichhörnchen
Eines Tages lief das rotbraune Eichhörnchen durch den Wald. Und wie es so von Ast zu Ast hüpfte, vernahm es plötzlich ein Stöhnen und Klagen. Neugierig, was das sein könnte, lief es am Baumstamm hinab bis zur Mitte, um aus sicherem Abstand Ausschau zu halten.
Da sah es den Tiger im Gras liegen, neben ihm eine Blutlache und in der Hinterkeule steckte ein Pfeil. Vorsichtig wagte sich das Eichhörnchen weiter nach unten: „Hallo Tiger, kann ich dir helfen?“
„Du?“
„Warum nicht? Du musst aber schwören, mir nichts zu tun.“
„Ja, ich schwöre. Ich bin doch kein Schwachkopf meinem Helfer ein Leid anzutun.“
„Gut, ich werde versuchen, den Pfeil herauszuziehen. Aber wenn ich es nicht schaffe, darfst du mich auch nicht fressen.“
„Ist abgemacht. Los, nun mach schon!“
Das Eichhörnchen kletterte vom Baum herab auf die Wiese.
„Leg dich flach auf den Bauch“, wies es den Tiger an.
Der Tiger tat, wie ihm geheißen.
Das Eichhörnchen hüpfte auf den Hinterlauf der Raubkatze und zog so lange an dem Pfeil, bis er endlich nachgab und schließlich nach außen glitt. Dann sprach es zu dem Tiger: „Bleib liegen und rühr dich nicht von der Stelle.“ Das Eichhörnchen kehrte mit blutstillenden und heilenden Kräutern zurück und legte sie auf die Wunde. Es brachte dem Tiger Wasser und Futter und pflegte ihn ganze vier Wochen bis er wieder laufen und springen konnte.
Der Tiger bedankte sich bei dem Eichhörnchen und versprach, es mit Futter für seinen Wintervorrat zu entlohnen.
Die Kunde über dieses Ereignis breitete sich im Wald aus wie ein Lauffeuer. Die Tiere bewunderten den Mut und die Heilkenntnisse des Eichhörnchens.
Und viele kamen zu ihm, wenn sie ein Leid hatten. Meist wusste es zu helfen.
Eines Tages kam der Biber, weil sich tief in seinem Rachen einen Holzspahn eingespießt hatte.
Das Eichhörnchen mühte sich redlich, aber bekam den Splitter in der Tiefe des Rachens nicht zu fassen. Es dachte kurz nach. Dann bat es den Biber um einen kleinen Moment Geduld und rannte, so schnell es seine kurzen Beine tragen konnten, hinab zum See. Es lief durch das Schilf, solange bis es den Fischreiher gefunden hatte. Der Reiher war sehr verwundert über den Besuch, verstand jedoch sehr schnell die Dringlichkeit der Angelegenheit und erklärte sich einverstanden, den Biber von seiner Pein zu befreien.
Der Eingriff mit dem langen und geschickten Schnabel des Vogels war kurz und fast schmerzlos. Der Biber bedankte sich in aller Form und erkundigte sich, ob er seinen Großvater auch zum Reiher schicken könne, dem schon seit dem Frühjahr ein Dorn im Fleische stecke. Der Reiher war auch zu dieser Fremdkörperentfernung wie zu vielen noch folgenden bereit. So wirkten das Eichhörnchen und der Reiher fortan gemeinsam.
Eines Tages kam ein Reh auf drei Beinen angehumpelt. Das vierte war gebrochen und völlig aus der normalen Richtung gedreht. Es bat um Hilfe, sein gebrochenes Bein wieder zu richten. Doch die Kraft dafür konnten weder das Eichhörnchen noch der Reiher aufbringen.
Da dachte das Eichhörnchen kurz nach. Es bat das Reh um einen kleinen Moment Geduld und rannte, so schnell es seine kurzen Beine tragen konnten, durch den tiefen Tannenwald bis es schließlich den Bären traf. Der Bär wunderte sich über den Besuch. Jedoch, nachdem ihm das Eichhörnchen die missliche Lage des Rehs beschrieben hatte, war er einverstanden, seine Bärenkräfte zur Verfügung zu stellen.
Der Bär zog an dem verdrehten Bein des Rehs und ratsch war es wieder in der richtigen Stellung. Mit Hilfe des Reihers schiente das Eichhörnchen das kranke Bein, und nach sechs Wochen konnte das Reh wieder springen. Die Kunde über die Fähigkeit des Bären wurde im Wald von jedem Ast gepfiffen. Und so blieb auch der Bär beim Reiher und beim Eichhörnchen.
Von nun an kamen täglich kranke Tiere, das Dreiergespann um Hilfe zu bitten.
Und weil es immer mehr wurden, gesellten sich den Helfern noch weitere Eichhörnchen, Reiher und Bären hinzu. Auch dann ebbte der Strom der Hilfesuchenden aus Nah und Fern nicht ab.
Die Helfertiere hatten rund um die Uhr zu tun. So kam es, dass ihnen kaum Zeit blieb, sich um ihren eigenen Lebensunterhalt zu kümmern. Die meisten Kranken entlohnten sie mit Futter, aber das reichte nicht immer aus, um alle Helfer zu sättigen. Manche kleine Tiere waren auch nicht in der Lage, ausreichend Futter für einen Bären zu beschaffen.
Da hatte der Fuchs eine Idee. Er eröffnete gleich neben seinem Bau ein Büro und einen Lagerraum. Er schlug folgende Bekanntmachung an der großen Buche mitten auf der Waldwiese an:
„Jedes Tier ist verpflichtet zum Ersten jedes Monats ein Zehntel seines Futtermonatsetats beim Fuchs abzugeben. Damit versorgt der Fuchs die Helfertiere, die Kräutersammler, die Prothesenbauer, die Reinigungsschnecken, die Blutegel und alle am Heilen beteiligten Tiere, dass diese sich uneingeschränkt ihrer Tätigkeit widmen können und dennoch jeden Tag ausreichend zu fressen haben. So ist gewährleistet, dass auch Tiere, die nicht in der Lage sind, große Mengen Futter herbeizuschaffen, sich ohne Gewissensbisse behandeln lassen zu können. Die Solidarität unter den Tieren gleicht diese Unstimmigkeit aus. Gezeichnet: Das Tiere-ohne-Sorgen-Büro.“
Die Tiere fanden diese Idee wunderbar, denn alle schienen davon einen Vorteil zu haben. Auch der Fuchs. Da er den ganzen Tag mit Organisieren und Einsammeln und Verteilen zu tun hatte, durfte er sich natürlich auch vom gemeinsamen Topf bedienen.
Das Tiere-ohne-Sorgen-Projekt wurde weit über die Grenzen des Waldes hinaus bekannt. Tausende leisteten regelmäßig Abgaben, die Anzahl der Heiler, deren Helfer und Helfershelfer wurde immer größer, und immer mehr Tiere kamen täglich und baten um Hilfe.
Es war schon längst nicht mehr so, dass nur Kranke und Verletzte behandelt wurden. Auch Altersschwachen wurden abgenutzte Teile ausgetauscht, es gab neue Gelenke, komplette neue Pfoten oder Flügel, altersschwache Herzen wurden renoviert. Wer mit der Form seines Schnabels oder seiner Ohren nicht zufrieden war, bekam eine Veränderung derselben. So kam es, dass die Tiere sich mit unabwendbaren Dingen des Lebens nicht mehr abfanden, so wie es Generationen vor ihnen getan hatten, sondern jedem kleinen Makel ihres Körpers sofort nachgingen und ihn reparieren ließen.
Das Eichhörnchen war über diese Entwicklung gar nicht froh, denn mit seinem Anliegen des Heilens hatte das fürwahr nichts mehr zu tun. Es hatte sich mit dem Reiher und dem Bären zusammengetan, um kranken Tieren zu helfen, nicht um ganztägig Dauerwunscherfüller zu sein. Seine Kräfte waren am Ende. Schon oft hatte es darüber nachgedacht, seinen alten Kobel zu verlassen und irgendwo hinzugehen, wo keiner seine Fähigkeiten kannte. Dann aber taten ihm diejenigen Tiere leid, die wirklich seine Hilfe brauchten, und es brachte den Weggang nicht über das Herz.
Weil der Fuchs das Einsammeln der Futterspenden nicht mehr allein bewältigen konnte, half seine ganze Familie einschließlich Neffen und Vettern mit im Büro, die sich selbstverständlich auch von den Vorräten üppig bedienten und ein Leben im Überfluss führten.
Nach einiger Zeit aber reichten die Abgaben der Tiere, die der Fuchs einsammelte, nicht mehr, um alle helfenden Bären zu füttern. So geschah es, dass der Bär zu schwach war, dem Bullen ein ausgekugeltes Bein wieder einzurenken. Der Bulle war außer sich. Er fühlte sich betrogen. Jeden Monat hatte er reichlich Futter und seine Frau Milch abgegeben. Jetzt wollte er eine Hilfe, die er eigentlich schon seit Jahren abgegolten hatte, und bekam sie nicht.
Er beschwerte sich beim Fuchs.
Der Fuchs bedauerte den Vorfall, wusch aber seine Hände in Unschuld. Die Helfertiere und Kräutersammler hätten die Vorräte einfach aufgefressen und verschleudert, erklärte er dem wütenden Bullen. Unverrichteter Dinge humpelte dieser davon.
Am nächsten Tag teilte der Fuchs den Eichhörnchen, den Reihern, den Bären und allen ihren Helfershelfern mit, dass die Vorräte nur noch für die Hälfte der Ihrigen ausreichten. Entweder müsse sich ein Teil der Helfer in einem anderen Wald verdingen oder jeder bekäme nur noch die halbe Ration. Wer jedoch unter diesen Umständen nicht in der Lage sei, die volle Leistung zu erbringen, sei es nicht wert, zu den Helfertieren zu gehören.
Am Abend dieses Tages hielten die Helfer eine Versammlung ab. Sie konnten sich aber nicht einigen, wer gehen und wer bleiben solle. Denn jeder hatte in ihrer Gemeinschaft seine ganz spezielle und wichtige Aufgabe, der eine konnte am besten den grauen Star stechen, der andere Warzen entfernen, der nächste kannte die Kräuter gegen Verdauungsbeschwerden. So waren alle unersetzlich, und die Tiere, die ihnen vertrauten, wären enttäuscht gewesen. Und als am nächsten Morgen wieder Hasenfamilien, Büffelherden, Wolfsrudel und Vogelschwärme Schlange standen, blieben alle Helfer da.
Am folgenden Abend verteilte der Fuchs nur die halbe Ration.
Nun entschieden die Heiler, nur noch diejenigen zu behandeln, die wirklich krank oder verletzt waren. Um alles das, was lediglich dem Aussehen oder dem Wohlfühlen diente, sollten sich die Tiere selbst kümmern. Dem dicken Mops sagte das Eichhörnchen, er solle weniger fressen und mehr laufen. Der Katze mit dem verfilzten Fell hießen sie, sich täglich zu putzen. Dem Windhund mit den Gelenkschmerzen rieten sie, weniger Rennen zu laufen, aber sich dennoch täglich zu bewegen. So hatten sie für jeden einen nützlichen Rat zur Selbsthilfe, denn die Weisheiten ihrer Vorfahren hatten fast alle Tiere vergessen. Jeder sollte wieder lernen, für sich selbst verantwortlich zu sein.
Darüber waren die Tiere sehr erbost. Schließlich hatten sie jeden Monat ihren Beitrag beim Fuchs abgegeben, um sich alle Unbill abnehmen zu lassen.
Sie bewarfen den Kobel des Eichhörnchens, das Nest des Reihers und den Bau des Bären mit Steinen und Unrat.
Dann zogen sie zum Fuchsbau. Die Familie saß gerade gemeinsam beim Mahl. Den Tieren gingen die Augen über, wie der Tisch der großen Fuchsfamilie mit Speisen und Leckereien beladen war, alles Dinge, die sich die Tiere vom Munde abgespart hatten. Sie zwangen durch ihre Übermacht den alten Fuchs, die Vorratskammern zu öffnen. Die Regale waren leer, von ihren Abgaben war tatsächlich kaum noch etwas da.
Allen voran stellte sich der Bulle vor dem Fuchs auf. Sein rechtes Hinterbein zog er nur noch ein klein wenig nach. Ansonsten war er bestens bei Kräften. Das war dem Fuchs unheimlich.
„Meine lieben Tiere“, sprach der Schlaue, „wenn jeder alles will, bleibt für alle nichts.“
„Und was ist mit dir und den Deinen?“
„Wir haben uns redlich bemüht, es allen recht zu machen.“
„Und was soll jetzt werden?“
„Ihr werdet alle mehr abgeben müssen, wenn es so weitergehen soll, wie bisher.“
Die Tiere riefen alle durcheinander: „Halsabschneider“, „Nimmersatt“, „Betrüger“...
Auf den Bäumen vor dem Fuchsbau hatten sich schon die Geier versammelt. Sie warteten darauf, dass das große Zerfleischen beginnen würde. Es gäbe ein Festmahl.
„Das Eichhörnchen ist an allem schuld!“, rief Frau Fuchs, um ihrem Mann beizuspringen.
„Das glauben wir nicht“, rief ein Teil der Demonstranten.
„Los, wir greifen uns das Eichhorn!“, riefen die anderen und liefen los zu seinem Kobel.
Damit war die protestierende Menge schon auf die Hälfte reduziert. Der Fuchs wischte sich heimlich den Schweiß von der Stirn.
„Der Reiher ist schuld. Er wollte von Tag zu Tag mehr!“, rief der Schwager, der beim Fuchs als Bürovorsteher angestellt war.
„Das glauben wir nicht“, rief eine Gruppe der Aufständischen.
„Los, wir machen den Reiher fertig!“, johlten die Übrigen und machten sich auf den Weg.
Das sieht schon günstiger für mich aus, dachte der Fuchs, wieder ist ein Teil der Wütenden verschwunden.
„Der Bär ist schuld, er ist ein gefräßiger Nimmersatt!“, rief der Neffe des Oberfuchses.
„Das glauben wir nicht, er lügt“, rief ein kleiner Teil der Protestierenden.
„Los, wir schnappen uns den Bären, er wird büßen müssen!“, beschloss der andere Teil und machte sich auf den Weg zur Höhle des Bären.
Die restlichen Demonstranten waren nur noch ein kleines Grüppchen und nicht stark genug, um sich mit der Großfamilie Fuchs anzulegen.
„Ihr könnt zum nächsten Abgabetermin am Anfang kommenden Monats euer Anliegen in schriftlicher Form einreichen“, erklärte sichtlich erleichtert der Fuchs dem verbliebenen Häuflein. „Und nun husch, nach Hause mit Euch!“
Mit gesenkten Häuptern verließen sie die Wiese vor dem Fuchsbau.
Die Geier waren enttäuscht über den Lauf des Geschehens. Das üppige Mehrgängemenü war wieder von Speisekarte gestrichen worden. Wie schade.
Als die aufgebrachte Menge am Kobel des Eichhörnchens, am Nest des Reihers und an der Höhle des Bären ankam, waren deren Wohnungen verlassen. Das Dreiergespann war auf dem Weg in ein fuchsfreies Land.
Auch dort halfen sie den Tieren, die von Missgeschicken oder Krankheit heimgesucht wurden. Aber sie gaben die Entscheidungen über ihre Arbeit nie wieder aus der Hand, nie wieder ließen sie sich von anderen verwalten oder bevormunden und kaufen nimmermehr.
Das Leben der Geier im Fuchsland wurde einfacher. Es geschah, dass kranke oder verletzte Tiere einfach am Wegesrand liegen blieben und verendeten. Durch das verbesserte Nahrungsangebot konnten sich die Geier immens vermehren. Ob aber aus dem Fuchs- ein Geierland geworden ist, wurde nicht überliefert.
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