EINE GESCHICHTE - EIN MOMENT - FUNDUS
31.05.2024
Vogelschutzinsel
Der Regen war weitergezogen und stand jetzt wie eine dunkle Mauer über dem Festland. Hier jedoch ließ die wiederkehrende Sonne bereits die Feuchtigkeit aus der Erde steigen, und die Luft lag schwer auf der Brust. Während des Unwetters waren sie im Auto sitzen geblieben, die Böen hatten es hin und her wanken lassen. Die Wellen des tosenden Meeres hatten sich von der Anlegestelle fast bis zu ihnen hinauf auf den Sandweg herangeleckt.
Sie waren durch einen schmalen Waldgürtel gekommen, dessen Kiefern sich ächzend im Sturm gebeugt hatten, Äste waren herabgefallen.
Jetzt lag die Landschaft erschöpft da, kein Lüftchen regte sich mehr. Schweigend saßen sie nebeneinander und beobachteten, wie in der Ferne die Vogelschutzinsel aus dem Nebel trat. Sie waren viel zu früh hier, noch mindestens eine halbe Stunde würde es dauern, bis der Fischer mit seinem Kutter kommen würde.
Bei dem Gedanken, Irmtraut für die nächsten vier Wochen an eben jene Insel zu verlieren, würgte ein Kloß in seinem Hals. Dennoch käme es für ihn niemals in Frage, vier Wochen fernab jeglicher Zivilisation, im Funkloch, ohne Dusche, ohne WC, nur im Kontakt mit brütenden Vögeln zu leben. Ohne das Theater war sein Leben jeglicher Würze, nein jeglichen Inhalts beraubt. Er brauchte nach der Vorstellung das Gespräch in fröhlicher Runde und freute sich, danach in sein gemütliches Bett zu fallen. Ebenso liebte es Irmtraut, neue Aufführungen zu erleben. Auch danach darüber zu reden. Aber sie konnte um nichts in der Welt das aufgebauschte, sich im Kreise drehende Geschwätz ausstehen, bei dem es viel mehr um Selbstdarstellung als um das Bühnenstück ging, solange bis jeder in einer immer größer werdenden Gesprächsblase saß, die zwangsläufig irgendwann platzte und deren leere Worthülsen am nächsten Morgen von der Putzfrau zusammengefegt werden würden. Und jetzt geht sie auf die Insel Vögel beobachten. Das Auto war bepackt mit Schlafsack, dicken Decken, grob gestricktem Pullover, Wetterjacken, Büchern und kistenweise haltbaren Lebensmitteln.
Irmtraut steigt aus dem Auto, setzt diesen furchtbaren grün-grauen Fischerhut auf und läuft gemächlich zum Wasser. Ein frischer Wind kommt auf, die Luft wird leichter. Die Lachmöwen ziehen Kreise. Sie freut sich auf die Küstenseeschwalben, die Austernfischer, die Höckerschwäne und die Einsamkeit. Völlig verwandelt lockt jetzt das Meer smaragdgrün und der helle Sand der Vogelinsel leuchtet verheißungsvoll.
Das Knattern des Kutters durchlöchert die Stille. Zeit für die Überfahrt.
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