15.10.2022
Herbst
Noch einmal will ich es wagen. Wahrscheinlich das letzte Mal in diesem Jahr. Der Kies am Grund schmerzt an den Füßen, schnell laufe ich darüber hinweg. Das Gefühl erinnert mich an Schnee, die Kälte sticht in die Haut wie tausend Nadeln. Beim Eintauchen nimmt sie mir die Luft. Dann ist alles gut. Meine Hände durchschneiden gemächlich das glasklare Wasser, ich kann bis zu meinen Fußspitzen sehen. Leicht gleite ich über den See. Der Himmel über mir spiegelt sich in der glatten Oberfläche, Wildgänse kreuzen ihn in geordneter Formation. Am gegenüber liegenden Ufer bringt die Abendsonne das Herbstlaub zum Leuchten. Neben mir erscheint plötzlich ein Haubentaucher, ebenso blitzschnell verschwindet er wieder im Wasser. Ich suche nach ihm, taste mit den Augen den See ab. Es dauert ewig, bis er endlich ganz weit von mir wieder auftaucht. Manchmal spüre ich den Flossenhauch eines dieser großen grauen Fische. Die kleinen tanzen vor mir in der Sonne herum. Ich scheine sie nicht sonderlich zu stören. Plötzlich sticht eine Möwe mitten hinein und verschwindet mit ihrer Beute. Kreischend verfolgen sie zwei futterneidische Artgenossen. Allmählich werden meine Finger taub, Zeit umzukehren. Am Ufer haben sich über dem Wasser schon flache Nebelschwaden gebildet. Aus dem Schilfgürtel kommt mir ein Schwanenpaar entgegen, beeindruckend große Tiere, doch sie schwimmen desinteressiert an mir vorbei.
Die untergehende Sonne ist hinter den Bäumen verschwunden, der Ufersand abgekühlt, das Gras schon feucht. Stille. Die Schwäne ziehen lautlos ihre Bahnen. Ich nehme Abschied für dieses Jahr von den Vögeln, den Fischen und vom gemeinsamen Schwimmen in unserem See. Vermutlich bin ich von uns die einzige, die weiß, dass er weder durch Naturgewalten noch durch einen göttlichen Fingerzeig entstanden ist, sondern Menschen mit Schaufelradbaggern die Erde aufgerissen haben, bis in schwindelerregende Tiefen, in diesem Loch Bäume und Sträucher, einen ganzen Auenwald haben verschwinden lassen und seinen Tieren den Lebensraum genommen haben.
Die Natur verzeiht so vieles. Und wir sind so maßlos. Wofür eigentlich?
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