25.06.2022
Fischland
Irgendwie ist dieses Mal alles anders. Schon auf den Feldern liegt Ostseesand, bildet tote Inseln zwischen den frühlingsgrünen Halmen. Am Ende des pappelgesäumten Weges geht das Rauschen der Baumwipfel in das des Meeres über. Endlich! Wie um den Moment des Wiedersehens zu vollenden, bricht die Sonne aus einer Wolkenlücke hervor. Salzige Luft wird an der Steilküste nach oben geweht.
Doch … das darf nicht wahr sein! Der Hochuferweg ist weg! Abgestürzt. Weggespült.
Irgendjemand hat das rot-weiße Band, das den weiter landeinwärts gelegenen Radweg bereits abgesperrt hatte, zur Seite geschoben, damit weiter geradelt werden kann. Daneben steht eine große Schautafel: Rettet das Hochufer!
Traurig traben wir landeinwärts. Am Feldrand macht sich ein graubärtiger Mann, die dunkelblaue Schirmmütze tief ins gegerbte Gesicht gezogen, an seinem Traktor zu schaffen. Wir fragen ihn nach dem Hochufer. Er blickt nur kurz auf: „Dat is en ganz olle Geschicht.“ Fragend sehen wir ihn an. „Dat wier all Schietkram“, knurrt er, bevor er lärmend mit dem Hammer gegen den verkanteten Schraubenschlüssel schlägt.
Zwei Tage lang hat uns der April Sommer vorgegaukelt. Jetzt peitscht der Regen fast waagerecht, und über dem pechschwarzen Bodden zucken Blitze wie bizarre Ungeheuer. Die Fischerklause ist geschlossen. Wir klopfen trotzdem. Immer wieder. Endlich öffnet sich die Tür einen Spalt. Eine mürrische Stimme sagt, dass Ruhetag sei. Sie gehört einer vollbusigen Frau, die uns von oben bis unten mustert, verwundert den Kopf schüttelt und uns schließlich einlässt. Wortlos stellt sie zwei Gläser Tee auf den Tisch, um übergangslos ihre begonnene Arbeit fortzusetzen. Sie wirtschaftet hinter dem Tresen herum, man hört Wasser plätschern und das Schrubben einer Wurzelbürste.
Nachdem unser Tee fast ausgetrunken ist, kommt sie zurück, wischt sich die Hände an ihrer Schürze ab, und fragt, wo wir herkämen, worauf sie die Landratten mit einem mitleidigen Blick bedenkt. Was das um das Hochufer für eine alte Geschichte sei, fragen wir. Sie hält inne, holt hörbar tief Luft und setzt sich zu uns an den Tisch:
„Meine Großmutter hat sie erzählt“, beginnt sie, „uns, den Kindern. Nachdem der olle Fiete sie dabei ertappt hatte, durfte nie wieder darüber gesprochen werden.
Also: Vor langer Zeit soll es ein paar Steinwürfe von hier eine Verbindung zwischen dem Bodden und der Ostsee gegeben haben. So konnten die Schiffe bequem vom Meer bis zum Hafen von Ahrenshoop und nach Stralsund gelangen. Doch das war den Rostocker Kaufleuten ein Dorn im Auge. Ein Kampf entbrannte, der mit Verordnungen und Vorschriften begann und schließlich mit dem Versenken eines Schiffes in dem Verbindungskanal endete. Just zu diesem Zeitpunkt weilte die schöne Aquina im Bodden, um sich ein Hochzeitsgewand aus Binsen zu flechten. Des Abends, als sie ins Meer zurückkehren wollte, fand sie den Weg verschlossen. Laut rief sie ihren Bräutigam Tempestas um Hilfe an. Daraufhin ließ er einen Sturm vom Meer über das Land fegen, der Boote und Klippen mit sich riss. Doch das versenkte Schiff verkeilte sich nur noch fester im Kanal. So blieb Aquina im Bodden gefangen. Seitdem hört man sie in manchen Nächten rufen. Und Tempestas tobt mit ganzer Kraft. Das Hochufer rutscht Jahr für Jahr weiter in das Meer. Meine Großmutter wusste, dass es so lange abgespült würde, bis Bodden und Meer wieder verbunden wären. Nein, das ist keine traurige Romeo-und-Julia-Geschichte. Aquina und Tempestas kämpfen so lange, bis sie wieder miteinander vereint sind.“
Eine Weile blickt die Wirtin versonnen aus dem Fenster. Der Sturm hat sich gelegt, erste Boote verlassen schon den kleinen Hafen. Wir bedanken uns herzlich für die Rettung vor Tempestas' Zorn und für die Geschichte, die wir weitererzählen werden.
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