ad usum proprium 
die literarische Seite von Birgit Gerlach

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MEDICUS VULGARIS - AUS DEM LEBEN DES GEMEINEN HAUSARZTES - FUNDUS


01.12.2022

Sport veredelt


Nachdem viel Geld von einem Topf in den anderen geschaufelt wurde, zerren jetzt diejenigen, die glauben, ihre Wäsche makellos weiß gewaschen zu haben, die Fußballweltmeisterschaft auf die politische Bühne.
Vom Lager der moralisierenden Wenigwisser, das nicht zurückschreckte, sich Gas bei den Scheichs zu erdienern, nachdem es zuvor auf die falsche Karte gesetzt hatte, wird nun von den Sportlern erwartet, dass sie politische Zeichen setzen. Vermutlich sollen die demonstrativ edelmütigen Gesten der Fußballer die peinliche Liebedienerei der Ersteren überblenden.
Dieses Possenspiel erinnert in fataler Art und Weise an die Sportler in der DDR, die damals aller Welt die Überlegenheit des Sozialismus beweisen sollten. Die Sportler haben wirklich ihr Bestes gegeben.


Erinnerungen an die Europameisterschaft 2016


In Ermangelung charismatische Politiker, leider oder zum Glück, stützt sich das Gefühl des Nationalbewusstseins einzig und allein auf die geschundenen Schultern, die angerissenen Sehnen und gezerrten Bänder der Fußballspieler. Stellvertretend für alle, die zuschauen, müssen sie den Ruhm und den Erfolg einfahren, der jenen verwehrt geblieben ist. Das Fußballvolk taumelt im Wir-Gefühl, einem unerfüllten Traum längst verflossener Kindertage. Beim Fiebern mit den Spielern vergessen sie geflissentlich, dass sie selbst lediglich mit ihrem Hintern auf dem Sofa sitzen. Misslingt etwas, werden die Spieler als Versager beschimpft, gelingt ein Schlag feiern sich die Zuschauer als Helden.
Die Identitätsübergabe an die Spieler ist so inniglich, dass deren Erregung und Anspannung, man sollte es kaum glauben, in den Vitalparametern der Sofa-Fans messbar ist.
Ich war so unbedacht, einige Patienten für die Zeit der Fußball-EM für die 24-Stunden-Blutdruckmessung einzuplanen. Die Blutdruck- und Pulsanstieg während des Spielverlaufes war frappierend, es wurden systolische Werte bis 190 mmHg erreicht. Fußballgucken ist ein wahrhaft gefährlicher Sport!
Ein weiteres interessantes Phänomen: Vor lauter Aufregung muss dauernd gegessen und getrunken werden. Harnsäure hoch? Aber Frau Doktor, während der Fußball-EM kann ich nicht auf das Bier verzichten! Ein trockener Alkoholiker gesteht mir, dass er statt während des Spiels Bier zu trinken, kannenweise Kaffee in sich hineinschüttet. Eine Patientin mit deutlich erhöhten Zuckerwerten stopfte vor dem Fernseher völlig gedankenverloren tütenweise Gummibären in sich hinein. So müssen sie alle mit irgendwelchen Ersatzobjekten zufrieden sein, weil für die überwiegende Zahl der Zuschauer das beruhigende Nuckeln an der Mutterbrust in weite Ferne gerückt ist.
Und dann geschieht das Schockierende: Null zu zwei gegen Frankreich. Der rapide Absturz in eine Identitätskrise.
Die Niederlage müssen wir erstmal herunterspülen, beschließt die Männerrunde und diskutiert bis in die frühen Morgenstunden. Frau Lehmann schüttet frustriert ihre Gummibären aus der Konfektschale in den Abfalleimer. Bei der Hälfte hält sie inne. Da fällt ihr ein, dass nächste Woche der Enkel zu Besuch kommt. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht.
Am Morgen danach bleibt den Sofakämpfern ein fader Nachgeschmack. Wieder einmal sind sie von den Vertretern ihrer ureigensten Interessen enttäuscht worden. Es ist wie im wahren Leben. In leicht gedrückter Stimmung werfen sie sich in ihren Alltag, immer mit einem Auge auf der Suche nach jemandem, der für sie in den Kampf ziehen könnte. Man ist ja selbst so machtlos.
Den richtigen Fußballspielern sei hinterher zu rufen, dass, wenn sie sich von der Last der Verantwortung befreit haben, ihnen wieder die Lust am Spiel in die Glieder fahren möge.


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